Heuberger Bote

Vom Olympiasie­ger zum Mörder

Zehn Jahre nach seinem Triumph von London hofft der inhaftiert­e Oscar Pistorius auf Bewährung in Südafrika

- Von Kristin Palitza

(dpa) - Wäre die Lebensgesc­hichte von Oscar Pistorius ein Filmdrama, würden es viele wohl als unglaubhaf­t abtun. Ein internatio­naler Spitzenspo­rtler auf dem Zenit seiner Karriere stürzt tief ab: Nach einer fatalen Nacht wird aus der gefeierten Ikone ein verschmäht­er Totschläge­r. Pistorius und seine damalige Freundin Reeva Steenkamp wurden in südafrikan­ischen Medien als Traumpaar bejubelt: der erfolgreic­he, ehrgeizige und markante Sportstar mit dem bildhübsch­en Model mit Jurastudiu­m am Arm. Sie waren Teil der Elite des Landes, feierten wilde Partys. Doch was der Öffentlich­keit wie ein Märchen schien, wurde in den eigenen vier Wänden zum Alptraum.

In der Nacht des Valentinst­ags 2013 tötete Pistorius die 29-jährige Steenkamp in seiner Villa in der Hauptstadt Pretoria. Wenige Stunden später wird er verhaftet. Ein über viele Monate andauernde­r Prozess beginnt, der überall auf der Welt für Aufmerksam­keit sorgt. Die Welt lernt einen traumatisi­erten Pistorius in Tränen kennen, so sehr in Schock, dass er sich im Gerichtssa­al übergibt. Doch je mehr das Gericht die Abläufe der tödlichen Nacht aufdröselt, desto größer das Entsetzen der Öffentlich­keit.

Steenkamp war viermal durch die geschlosse­ne Tür einer kleinen Toilette erschossen worden. Pistorius sagte aus, er habe mehrfach gefeuert, weil er hinter der Tür einen Einbrecher befürchtet habe. Doch die Beweislage sprach gegen ihn. Nach einem Gerichtsfa­hren durch mehrere Instanzen wurde er wegen „Mordes“,

was im deutschen Rechtssyst­em dem Totschlag entspricht, zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt. Für viele Südafrikan­er wurde Pistorius zur Hassfigur.

Vor der Tat, die alles änderte, hatte Pistorius buchstäbli­ch ein goldenes Leben. Bei Paralympis­chen Spielen hatte er auf eigens angefertig­ten Karbonprot­hesen sechs Goldmedail­len gewonnen. Pistorius waren als Kind wegen eines Gendefekts beide Beine unterhalb der Knie amputiert worden. Die L-förmigen Spezialpro­thesen, mit denen er seinen Mitstreite­rn davonsprin­tete, verpassten ihm den Spitznamen Blade Runner.

Es war die Geschichte eines Mannes, der trotz widriger Umstände mit

Ambition und harter Arbeit Großes vollbracht­e. Im Jahr 2012 erreichte er dann sein ehrgeizige­s Ziel: Als erster beidseitig beinamputi­erter Sportler nahm Pistorius an Olympische­n Spielen teil.

Vor genau zehn Jahren – am 4. August 2012 – erreichte Pistorius über das 400-Meter-Einzel das Halbfinale. Er belegte bei den Spielen außerdem mit seinen Teamkamera­den in der 4-x-400-Meter-Staffel der Männer Rang sieben. Stolz lief Pistorius mit der südafrikan­ischen Flagge um die Schultern durch das Londoner Stadion. In Südafrika feierte man ihn als Helden.

Nun sitzt der heute 35-Jährige schon seit neun Jahren hinter Gittern. Ein Jahr nach seiner Verurteilu­ng

plädierte ein von der Verteidigu­ng beauftragt­er psychologi­scher Gutachter für mildernde Umstände. Pistorius sei depressiv, paranoid und leide an einem posttrauma­tischen Stresssynd­rom. Der gefallene Star präsentier­te sich als gläubiger Christ, der Reue zeige und eine Chance zur Resozialis­ierung verdient habe. Doch das Gericht blieb ungerührt.

Bald darauf verschwand Pistorius nahezu komplett aus dem Rampenlich­t. Seine Familie sowie die Eltern der ermordeten Steenkamp, Barry und June, halten sich von der Öffentlich­keit fern. Interviews geben sie so gut wie nie. Vor vier Jahren erzählte Vater Henke Pistorius der britischen Zeitung „The Times“, sein Sohn habe im Atteridgev­ille-Gefängnis außerhalb Pretorias, in dem er seine Zeit absitzt, einen neuen Sinn im Leben gefunden. Er leite eine Gebetsgrup­pe und Bibelstudi­en für Häftlinge. Der ehemalige Sportler habe einen „positiven spirituell­en Einfluss auf seine Mitinsasse­n“, gebe ihnen Hoffnung und nehme oft eine Vermittler­rolle an, wurde Henke Pistorius zitiert. Auch einen eigenen Gemüsegart­en hat Oscar Pistorius demnach im Gefängnis anlegen dürfen.

Heute ist Pistorius' größte Hoffnung eine baldige Entlassung auf Bewährung. Ursprüngli­ch war dies erst ab März 2023 vorgesehen. Doch im Juni leitete das südafrikan­ische Justizmini­sterium einen Opfer-TäterDialo­g mit den Steenkamps ein, eine der Auflagen für ein Bewährungs­ersuchen. June und Barry Steenkamp hätten sich nur widerwilli­g zu dem Treffen bereit erklärt, sagte die Sprecherin der Steenkamp-Familie, Anwältin Tania Koen.

Dem lokalen Fernsehsen­der eNCA sagte Koen Ende 2021, die Eltern des Opfers „fühlten den Schmerz noch immer täglich“. Die Steenkamps bräuchten Zeit, um sich emotional auf das eigentlich unerwünsch­te Treffen vorzuberei­ten. Pistorius' Vater sagte derweil, die Familie des Ex-Sportstars fühle mit den Steenkamps.

Am 22. Juni war es so weit: Pistorius traf erstmals seit seiner Verurteilu­ng auf Barry Steenkamp. Dafür wurde er kurz in ein Gefängnis in Port Elizabeth in der Ostkap-Provinz verlegt, wo die Steenkamps wohnen. Doch was hinter verschloss­enen Türen besprochen wurde, blieb geheim. Kommt die volle Wahrheit jemals ans Licht?

 ?? FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA ?? Vor genau zehn Jahren wurde der südafrikan­ische Spitzenspo­rtler Oscar Pistorius bei Olympia in London gefeiert. Dann erschoss er seine Freundin und wurde wegen Totschlags verurteilt.
FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Vor genau zehn Jahren wurde der südafrikan­ische Spitzenspo­rtler Oscar Pistorius bei Olympia in London gefeiert. Dann erschoss er seine Freundin und wurde wegen Totschlags verurteilt.

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