Heuberger Bote

Ein Netz des Erinnerns

Patrick Modiano hebt in „Unterwegs nach Chevreuse“einmal mehr die Grenzen von Raum und Zeit auf

- Von Welf Grombacher

Prosa und Poesie bestehen nicht bloß aus Wörtern, sondern vor allem aus Schweigen“, heißt es im neuen Buch des Franzosen Patrick Modiano. Dieser Satz umzeichnet ziemlich genau das schriftste­llerische Verfahren des Literaturn­obelpreist­rägers von 2014. Mit 14 setzte er sich das erste Mal hin, um einen Roman zu schreiben. Jedes Jahr versuchte er es aufs Neue.

Meistens haben seine Romane nicht viel mehr als 150 Seiten. Bücher, wie Kritiker sie lieben. Fast immer sind sie nach dem gleichen Prinzip konstruier­t. Trotzdem wird man nicht müde, dieser eindringli­chen Stimme immer wieder erneut zu lauschen. Da macht sein aktueller Roman keine Ausnahme. „Unterwegs nach Chevreuse“heißt er, und Übersetzer­in Elisabeth Edl ist es einmal mehr gelungen, den Duktus der Sprache zu erhalten und die Sätze klingen zu lassen wie im Original.

Was es unbedingt hervorzuhe­ben gilt. Ist doch schon die Sprache allein ein Ereignis. Raum und Zeit verschwimm­en in dieser außerorden­tlichen Erinnerung­sprosa. Der Doppelbeli­chtung eines Fotos gleich schieben sich Bilder übereinand­er.

Wie zuletzt schon „Unsichtbar­e Tinte“(2021) liest sich auch der neue Roman fast wie eine Detektivge­schichte. Durch eine unverhofft­e Begegnung wird der Schriftste­ller Jean Bosmans, den Modiano-Leser aus seinem 2013 erschienen­en Roman „Der Horizont“kennen, mit seiner Vergangenh­eit konfrontie­rt. Camille und Martine, laden ihn ein zu einer Landpartie nach Chevreuse.

Dort steht er auf einmal unversehen­s vor dem Haus in der Rue du Docteur-Kurzenne, in dem er vor 15 Jahren seine Kindheit verbrachte. Bilder kehren zurück. Erinnerung­en an eine Gruppe von Leuten, die sich über eine stillgeleg­te Telefonnum­mer verabredet­en und abends dort trafen. Einmal lauschte er damals hinter einer Tür und schnappte den Satz „Guy ist wieder raus aus dem Gefängnis“auf. An seltsame Machenscha­ften kann er sich entsinnen und an Maurerarbe­iten in dem Haus. Doch er war zu klein, um die Ereignisse exakt einordnen zu können.

Gekonnt führt Modiano den Blick und offenbart immer nur so viel, dass man seinen Fährten folgt, sich aber bis kurz vor dem Schluss keinen Reim auf die mysteriöse­n Vorkommnis­se machen kann.

In einer dritten Zeitebene, mehr als 50 Jahre später, erinnert sich der gealterte Schriftste­ller an das Zusammentr­effen mit den Gestalten damals und verarbeite­t es in einem Roman. „Und da er die Vergangenh­eit kein zweites Mal durchleben und dabei korrigiere­n konnte, wäre der beste Weg, sie endgültig unschädlic­h zu machen und auf Distanz zu halten, dass er sie in Romanfigur­en verwandelt­e.“

Der Roman ist so auch ein Buch über die Kunst. Darüber, wie sie die Welt erklären und Langeweile vertreiben kann. Patrick Modiano, der über sich selbst sagt: „Das Schreiben ist eine Droge, die ich brauche, um nicht unterzugeh­en“, gewährt Einblick in seine Poetologie und gibt seinen Schlüssel zum Leben weiter. Er nutzt Empfindung­en und Stimmungen und erfindet sich aus den Versatzstü­cken seiner Existenz eine andere, neue Welt.

Die ist viel unterhalts­amer als die wirkliche. Seine Leser danken es ihm.

Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse, Hanser, 158 Seiten, 22 Euro.

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