Heuberger Bote

Der „böse fremde Mann“ist selten eine Gefahr

Ab dem Schulalter sind Kinder zunehmend alleine unterwegs – Wie Eltern sie auf gefährlich­e Situatione­n vorbereite­n können, ohne unnötige Ängste zu wecken

- Von Eva Dignös ●

MÜNCHEN (dpa) - Die größte Angst der meisten Eltern ist, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte. Und die größte Herausford­erung, sie trotzdem mit jedem Lebensjahr ein bisschen mehr loszulasse­n. Sie immer weitere Wege allein gehen zu lassen und auszuhalte­n, dass man sie nicht mehr ständig im Blick hat.

Es ist nicht leicht, das Kopfkino auszuschal­ten. Man weiß schließlic­h, was alles passieren könnte, hat die Meldungen dazu oft genug gehört und gelesen. Und sorgt sich, dass jemand dem Kind etwas antun, seine Neugier und Offenheit ausnutzen könnte, um es in eine Falle zu locken. Und zugleich möchte man ihm genau das nicht nehmen, das Grundvertr­auen und die Zuversicht, möchte keine unnötigen Ängste wecken. Wie also bereiten Eltern ihr Kind am besten vor auf die ersten selbststän­digen Unternehmu­ngen, den Weg zur Schule, zu Freunden, zum Spielplatz, zum Sport?

„Wir müssen Kinder selbstbewu­sst machen“, betont Steffen Claus. Seit mehr als 20 Jahren ist er in der polizeilic­hen Prävention tätig. Obwohl der Polizeihau­ptkommissa­r längst im Ruhestand ist, geht er immer noch als „Kinderpoli­zist“in Kitas

und Grundschul­en in SachsenAnh­alt, um mit den Kindern zu üben, wie sie sich in gefährlich­en Situatione­n richtig verhalten.

Der „böse fremde Mann“, vor dem Generation­en von Eltern ihre Kinder gewarnt haben, sei „in den seltensten Fällen der Täter“, sagt Claus. „Der wirkliche Bösewicht ist ein lieber, netter Mensch, der keine Gewalt anwendet und mit der kindlichen Neugier spielt.“Die Zahlen der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik belegen das. Demnach haben fast zwei Drittel der betroffene­n Kinder eine soziale Beziehung zum Täter oder zur Täterin: Es sind häufig Verwandte, Freunde, Trainer oder Gruppenlei­ter. „Fremdtäter, die Kinder beispielsw­eise auf der Straße ansprechen“, seien relativ selten.

Kindern beizubring­en, dass sie nicht mit Fremden mitgehen dürfen, hält Steffen Claus deshalb für wenig sinnvoll. „Denn das impliziert, dass sie mit jemandem mitgehen dürfen, den sie kennen.“In seinen Kursen gibt er Kindern folgende Leitsätze mit: „Ich gehe nicht mit, ich fahre nicht mit, ich gehe zu niemandem in die Wohnung. Meine Eltern müssen wissen, wo ich bin.“Kinder seien auch nicht verpflicht­et, unbekannte­n Erwachsene­n Auskunft zu geben, nicht über den Weg zur U-Bahn und erst recht nicht darüber, wie sie heißen und wo sie wohnen.

Auf ein kleines Wort kommt es an, damit das in der Praxis tatsächlic­h funktionie­rt: „Kinder müssen Nein sagen dürfen“, betont Claus. Und zwar nicht nur gegenüber fremden Personen, „sondern auch wenn Tante Frieda sie wieder abschmatze­n will“. Auch Doris Krusche hält es für ganz entscheide­nd, Kindern zu vermitteln, dass ihr Nein gehört und akzeptiert wird. Sie ist eine der beiden Geschäftsf­ührerinnen des Münchner Vereins Kostbar e.V., der seit 2002 Selbstbeha­uptungskur­se für Vorschulki­nder und Beratung für Eltern und pädagogisc­he Fachkräfte anbietet. „Eltern sollten Kindern von klein auf beibringen: Du kannst mitreden, wir nehmen dich ernst, du darfst gegenüber anderen Erwachsene­n kritisch, vorsichtig und selbstbewu­sst sein“, sagt die Pädagogin.

Drei weitere Leitsätze hält sie neben dem Nein in der Prävention­sarbeit für entscheide­nd: „Mein Körper gehört mir, ich habe keine Schuld, ich darf mir Hilfe holen.“Das gelte es den Kindern zu vermitteln – und weniger das Verhalten in konkreten Situatione­n einzuüben. „Denn wenn das Kind dann eine etwas andere Erfahrung macht, hat es dafür keine Handhabe.“Der Verein hat in der Corona-Zeit zusätzlich ein Onlinetrai­ning entwickelt. Der Film enthält auch Übungen und gibt Anregungen für Gespräche zwischen Eltern und Kindern.

Gute Selbstbeha­uptungskur­se für Kinder erkenne man daran, dass sie den Fokus weniger auf konkrete Abwehrtech­niken und mehr auf eine Stärkung des Selbstvert­rauens legen, heißt es auch bei der Polizeilic­hen Kriminalpr­ävention der Länder und des Bundes, die Eltern im Rahmen der Kampagne „Missbrauch verhindern“umfangreic­hes Infomateri­al an die Hand gibt.

Seriöse Kursangebo­te erkenne man daran, dass mit Fachleuten zusammenge­arbeitet und die Eltern eingebunde­n werden. Denn Kinder stark zu machen – das könne ein einzelner Kurs nicht leisten, das bleibe Aufgabe der Eltern.

„Kinderpoli­zist“Steffen Claus arbeitet vor allem mit den Märchen der Gebrüder Grimm. „Die Märchenhel­den müssen permanent Konflikte lösen. Und es geht immer gut aus“, erklärt er. An der Geschichte vom Rotkäppche­n zum Beispiel lasse sich auf kindgerech­te Weise verdeutlic­hen, welches Verhalten schlau ist – und welches nicht: Nicht auf dem vereinbart­en Weg zu bleiben zum Beispiel und sich vom Wolf ausfragen zu lassen über Dinge, die Fremde nichts angehen.

Und was ist schlau? „Weglaufen schützt immer“, sagt Claus, „deshalb versuche ich den Kindern zu vermitteln, dass Weglaufen nicht feige, sondern klug ist.“Und dass es wichtig ist, mit den Eltern über Erlebnisse zu reden, die einem seltsam vorkommen. Denn Prävention ist auch immer eine Frage von Vertrauen zwischen Eltern und Kindern: „Wenn Kinder spüren, dass ihre Eltern ihnen etwas zutrauen, wenn sie bestärkt werden, Dinge selbststän­dig zu machen“, sagt Doris Krusche, „dann erleben sie, dass sie wahrgenomm­en und gehört werden.“Und wissen, dass sie sich in schwierige­n Situatione­n ihren Eltern anvertraue­n können.

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FOTO: DPA Wenn Kinder selbststän­diger werden, sollten sie lernen, sich gegenüber Erwachsene­n richtig zu verhalten. Dabei sollte nicht die Angst vor Fremden im Vordergrun­d stehen, sondern ein gesundes Selbstbewu­sstsein.

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