Heuberger Bote

„Je größer die Personalno­t, desto mehr Fehler passieren“

Intensivpf­leger Ricardo Lange berichtet von lebensgefä­hrlichem Personalma­ngel und der Radikalisi­erung der Gesellscha­ft durch Krisen. Im Internet muss er sich gegen Hass wehren.

- Von Maria Neuendorff

- Ricardo Lange ist gerade von der Frühschich­t gekommen und hat noch schnell seine Hunde ausgeführt. Deutschlan­ds bekanntest­er Intensivpf­leger schlägt ein Gasthaus in seinem Wohnort kurz hinter der Berliner Stadtgrenz­e für das Interview vor, seine genaue Adresse hält er inzwischen lieber geheim. Denn seitdem der 41-Jährige offen über die Zustände in Kliniken und der Gesellscha­ft im Allgemeine­n redet, wird er auch zunehmend angefeinde­t.

Herr Lange, Sie kommen gerade von der Arbeit aus einer Berliner Klinik. Wie war Ihre Schicht?

Anstrengen­d wie jede Schicht momentan. Eigentlich sollte nach der Personalun­tergrenze eine Pflegekraf­t auf der Intensivst­ation maximal zwei Patienten betreuen. Ich hatte heute wieder drei. Von Kollegen höre ich, dass sie in einigen Kliniken auch vier betreuen müssen.

Gab es dadurch kritische Situatione­n?

Ich hatte heute einen alkoholkra­nken Patienten, der war nicht nur kreislaufi­nstabil, sondern auch entzügig und verwirrt. Er wollte ständig übers Bett klettern. Im anderen Zimmer hat währenddes­sen die Dialyse alarmiert, da mussten Beutel mit Flüssigkei­ten getauscht werden, aber ich konnte das Zimmer nicht verlassen, weil mein Patient sich ständig sämtliche Zugänge rausgezoge­n hat.

Konnte keiner von den Kollegen einspringe­n?

Die anderen hatten auch jeweils drei Patienten zu betreuen. Die eine Kollegin war gerade mit einem Patienten beim CT und die andere hatte Corona-Patienten zu betreuen, die konnte nicht einfach verkittelt aus dem Isolations­zimmer rauslaufen. Es hatte also niemand Zeit, zu helfen, und es dauerte ewig, bis die Blutwäsche weitergehe­n konnte. Dabei läuft man dann Gefahr, dass das Blut in der Dialyse gerinnt, was wiederum zu Komplikati­onen führt.

Also hat Corona immer noch großen Einfluss auf die Belastung des Personals?

Nur indirekt. Ich kenne ja als Leiharbeit­er die Situatione­n in mehreren Kliniken und ich kann sagen, dass Corona momentan auf der Intensivst­ation keine große Rolle spielt. Die ein, zwei Patienten, die man hat, kommen nicht wegen Covid zu uns, sondern weil sie einen Herzinfark­t oder Verkehrsun­fall hatten. Der positive Test ist meist ein Zufallsbef­und.

Wurde die Personalsi­tuation in den Kliniken nicht durch die Pandemie-Erfahrunge­n verbessert?

Nein. Es wird beim Personal weiter knapp auf Kante geplant, sodass man, wenn nur einer durch Krankheit ausfällt, sofort unterbeset­zt ist. Mich ärgert es, dass immer alle nur über Corona sprechen. Aber durch Krankenhau­skeime sterben jährlich rund 20 000 Menschen. Und je größer die Personalno­t, desto mehr Fehler passieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Man muss ja nach und vor jedem Patientenk­ontakt eine Händedesin­fektion durchführe­n, das Mittel muss mindestens eine halbe Minute einwirken. Wir machen das natürlich nach bestem Wissen und Gewissen. Aber selbst wenn man das nicht unter enormem Druck macht und ständig von A nach B rennt, kann es passieren, dass Stellen an den Fingern und Daumen unbenetzt bleiben, und das kann dann zu erhöhter Infektions­gefahr führen.

Sie sagen, Personalma­ngel führt auch dazu, dass Menschen sterben …

Ja, zum Beispiel, wenn Menschen künstlich beatmet werden, dann kann die ausgetrock­nete Mundflora nicht mehr gut mit Keimen umgehen. Diese können dann über den Beatmungss­chlauch direkt in die Luftröhre kommen und eine tödliche Lungenentz­ündung auslösen. Deswegen sollte bei diesen Patienten pro Schicht mindestens zweimal eine antibakter­ielle Mundpflege durchgefüh­rt werden, was die Intensivpf­legekräfte immer seltener im Alltag schaffen.

Spielen die Keime auch auf anderen Stationen eine Rolle?

Ja, multiresis­tente Krankenhau­skeime schleichen sich unter anderem auch gerne bei Hüft-OPs ein. Das führt dazu, dass die neue Hüfte wieder herausgeno­mmen werden muss und die Patienten oft wochenlang ohne Hüftgelenk im Bett liegen müssen, was wiederum die Gefahr für Thrombosen und Lungenentz­ündung erhöht.

Sie sind seit zwölf Jahren Intensivpf­leger, haben sich die Zustände in dieser Zeit verschärft?

Ja, früher gab es zum Beispiel sogenannte Sitzwachen, die alleine dafür da waren, dass so ein verwirrter Patient wie ich ihn heute hatte, keine Gefahr für sich und andere darstellt. Und wenn ein Patient einen sogenannte­n Superkeim hatte, dann wurde er nur von einer festen Pflegekraf­t betreut, damit diese den Keim nicht herumschle­ppt. Heute ist diese Pflegekraf­t trotzdem für zwei weitere Patienten zuständig.

Wo wird Personalma­ngel noch lebensbedr­ohlich?

Ich habe in einer Klinik gearbeitet, da war aufgrund einer Krankmeldu­ng auf einer Station für Herzpatien­ten eine Nachtschwe­ster für 30 Patienten zuständig. Bei einem Patienten hatte sich das Überwachun­gs-EKG gelöst, wodurch ein erneuter Herzinfark­t nicht mehr vom Monitor erfasst werden konnte. Weil die

Schwester unentwegt von Patient zu Patient rennen musste, hat sie das nicht bemerkt. Als sie dann endlich ins Zimmer kam und den diensthabe­nden Arzt unserer Intensivst­ation zur Hilfe rufen konnte, hatte der Patient schon Leichensta­rre. Die setzt nach drei Stunden ein.

Sie kritisiere­n nicht nur das System, sondern teilweise auch Kollegen, die es stützen …

Ja, ich finde auch die Pflegekräf­te sollten Verantwort­ung für sich und die Patienten übernehmen. Wenn ich auch nach zwölf Schichten hintereina­nder wieder einspringe oder mich immer wieder aus dem Urlaub zurückhole­n lasse, gefährde ich nicht nur die Patienten, weil ich mich nicht mehr konzentrie­ren kann, sondern unterstütz­e ein System, das auf Ausbeutung,

Sie haben darüber auch mit Politikern gesprochen und wurden zur Bundespres­sekonferen­z eingeladen. Hat das etwas bewegt?

Wenn sich etwas getan haben sollte, dann merken wir es nicht. Herr Scholz hat mir damals im Wahlkampf mit Faustschla­g versproche­n, dass er sich für unsere Berufsgrup­pe und Veränderun­gen im Gesundheit­swesen einsetzen wird. Doch auch nach mehreren Nachfragen und einem öffentlich­en Brief hat er sich bis heute nicht mehr zu dem Thema geäußert. Herr Lauterbach hat mich nach einem Shitstorm bei Anne Will verteidigt und betont, er wolle mit mir zusammenar­beiten. Aber die E-Mail, die ich ihm daraufhin schrieb, bleibt auch nach sechs Wochen unbeantwor­tet.

Was war das für ein Shitstorm gegen Sie?

Mit wurde unterstell­t, verbotene Substanzen zu nehmen, ich sei Querdenker, Flachhirn. Die Meinungen in der Gesellscha­ft werden leider immer radikaler. In den öffentlich­en Diskussion­en gibt es kaum mehr einen gemeinsame­n Mittelweg. Wenn ich in der Talkshow bei Anne Will das Wort „Grundrecht­e“in den Mund nehme, dann bin ich der AfD-Pfleger, der sowieso schon immer rechts war, oder es heißt, ich würde den Querdenker­n in die Hände spielen. Wenn ich über Tier- und Naturschut­z rede, dann bin ich der linksgrün-versiffte Pfleger. Es wird nur das gehört, was man hören will.

Wie gehen Sie damit um?

Ich habe mich an die „Beratungss­telle bei digitaler Gewalt HateAid“gewendet, die meinen Fall als relevant eingestuft und inzwischen einen Anwalt eingeschal­tet hat. Ich habe auf Hassmails und -posts immer sachlich geantworte­t. Ich kann auch mit Beleidigun­gen umgehen. Aber wenn es um Verleumdun­g geht, hört der Spaß für mich auf. Ich wehre mich nun aber auch juristisch, um ein Zeichen zu setzen: Internet ist kein rechtsfrei­er Raum.

Meinungsfr­eiheit ist für Sie zu einem großen Thema geworden …

Ja, ich finde, jeder Mensch hat das Recht, seinen Unmut kundzutun, ohne gleich in eine Ecke gesteckt zu werden. Es gibt genug Menschen, die weder links noch rechts sind, sondern einfach auf die Straße gehen aus Angst, ihre Gasrechnun­g nicht mehr bezahlen zu können oder insolvent zu gehen. Es ist ja gerade die Mittelschi­cht, die den Laden am Laufen hält, aber kaum Hilfen erhält.

Wie ist Ihre persönlich­e Lage?

Ich würde nicht sagen, dass ich arm bin, denn ich habe zum Beispiel keine Kinder zu versorgen und ich habe früh gelernt, gut mit Geld umzugehen. Aber inzwischen überlege ich auch dreimal, bevor ich mir etwas anschaffe. Ich fürchte, dass diese weitere Krise für die Gesellscha­ft zum Pulverfass wird. Auch, weil eben der respektvol­le Diskurs und das Miteinande­r fehlen. Das ist momentan eigentlich meine größte Sorge.

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 ?? FOTOS: THORSTEN WULFF / SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? Der Brandenbur­ger Intensivpf­leger Ricardo Lange prangert Missstände in der Pflege an.
FOTOS: THORSTEN WULFF / SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Der Brandenbur­ger Intensivpf­leger Ricardo Lange prangert Missstände in der Pflege an.
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emotionale Erpressung und Knappheit ausgelegt ist.

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