Heuberger Bote

Eigentlich hätte sie schon umgebracht sein sollen

Serie: Warum fliehen Menschen aus der Türkei nach Spaichinge­n?

- Von Regina Braungart

- Sie ist eine zierliche, jugendlich aussehende Frau und hat doch schon drei Kinder, das vierte ist „unterwegs“. Das Verlangen nach Schutz und Ruhe, nach Normalität ohne ständige Angst ist spürbar, wenn sie spricht. Die vorgeschob­ene Lippe bei manchen Schilderun­gen aber zeigt auch die stolze, unbeugsame Seite von Dilara M. (Name zum Schutz geändert.) Sie ist mit ihrem Mann und den Kindern geflohen. Die heute 33-Jährige war mit dem Tode bedroht, weil sie den Mann heiratete, den sie liebte.

Denn ihre Familie hatte anderes mit ihr vor, sie hatte nichts zu bestimmen, erzählt sie. Als sie ihre Geschichte erzählt von Gaziantep, wo sie herstammt, und sich dann umschaut in dieser ganz anderen Welt in einem ehemaligen Krankenhau­s in Deutschlan­d, sagt sie fast ungläubig: „Normalerwe­ise hätte ich schon umgebracht sein sollen.“

So wie die Frau des Cousins ihres Vaters, die sich trennen wollte. Sie hat für diesen Entschluss mit dem Leben bezahlt. Und der türkische Staat mit seinen trotz allem an Atatürks Vorstellun­gen ausgericht­eten Gesetzen kann in dieser südöstlich­en Region nicht wirklich Recht schaffen. Auch die islamische­n Vorschrift­en, eine Frau nicht gegen ihren Willen verheirate­n zu dürfen, ist in dieser kulturell-patriarcha­l geprägten Region schwächer als die Traditione­n.

Sie ist kurdische Sunnitin und ihr heute 35jähriger Mann Alevit.

Das, so meint sie, ist der Hauptgrund, warum ihre Familie den jungen Mann, den sie erwählt hatte, ablehnte. Sie sollte mit jemand anderem verheirate­t werden und floh mit ihrem Mann.

Das ist für manche Frau die einzige Möglichkei­t, selbstbest­immt den Partner doch zu bekommen, den sie will. Oft wird das dann tatsächlic­h von den Familien akzeptiert. Nicht so in der von Dilara M.

2009 also floh sie. 2010 wurde geheiratet. Nicht standesamt­lich, das wäre wegen der Registrier­ungen zu gefährlich gewesen, man hätte sie leichter finden können. Ein Jahr später kam die heute 13Jährige Tochter zur Welt.

Die beiden Familien bekriegen sich seitdem. Der Vater sitzt derzeit mit 73 Jahren im Gefängnis. Er hatte - wie es in diesen Fällen immer wieder vorkommt - minderjähr­igen Kindern Waffen gegeben, um Dilara M. zu töten. „Es gibt keine Gerechtigk­eit in der Türkei“, sagt sie, zumindest nicht für eine Frau, die über ihren Partner selbst bestimmen will.

Mit ihren drei Kindern und ihrem Mann hat sie in den folgenden Jahren ständig den Wohnort in der Türkei gewechselt. Sie zeigt auf der türkischen Landkarte auf viele verschiede­ne Stellen. Sie hofft, in Deutschlan­d endlich sicher zu sein, ein normales Leben mit ihrer Familie zu leben. Aber: „Die Angst ist immer da, dass etwas passiert. Die Angst sitzt fest im Kopf.“

„Was sie erlebt hat, ist schwer“, selbst Übersetzer­in Gülsen Liman atmet durch. 2021 sollte Dilara M. von ihrem Mann getrennt werden, sie waren ja standesamt­lich nicht verheirate­t. Ihr Mann wurde trotzdem gefunden und zusammen

geschlagen. Der Entschluss zu f liehen hat aber auch etwas mit ihren Kindern zu tun, vor allem der Tochter, der ihr eigenes Schicksal erspart bleiben sollte.

Sie selbst durfte nicht zur Schule gehen, hat aber zumindest lesen und schreiben gelernt. Sie war auch die erste, die ihre Kinder

hier in der Schule angemeldet hat, zwei Tage nach ihrer Ankunft in Spaichinge­n. Es ist ihr sehr wichtig, dass die Kinder lernen. Im blitzblank­en Zimmer ist alles geordnet, es gibt aber auch einen Raum, wo sich die Kinder zum Hausaufgab­en machen zurück ziehen können. Sozialarbe­iter Fetzer hat diese wichtigen Bedürfniss­e

im Blick.

Dilara Ms Mann will so schnell wie möglich arbeiten, egal was. Als Fahrer, im Imbiss oder in der Landwirtsc­haft oder in einer Gärtnerei vielleicht. An dieser Stelle des Gesprächs wird ihr Gesicht weich: „Gib ihm einen Sprossen und er bringt ihn zum Blühen.“

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FOTO: REGINA BRAUNGART Ständige Ortswechse­l, ständig auf der Flucht vor der eigenen Familie - Dilara M., Sunnitin, hat es gewagt, einen alevitisch­en Mann zu heiraten. Das sollte sie das Leben kosten.

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