Es wird einsamer um die Kanzlerin
Die Kritik an Angela Merkel erreicht eine neue Dimension. 34 CDU-Funktionäre bemängeln ihren Kurs in einem gemeinsamen Brief. Am Abend tritt die Parteichefin ihren Gegnern im Fernseh-Interview entgegen
Solche Auftritte sind eine Rarität. In den bald zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft lassen sich Angela Merkels Besuche in Fernseh-Talkshows an einer Hand abzählen. Doch wenn sie die Notwendigkeit sieht, sich live vor laufenden Fernsehkameras in einem Studio zu ihrer Politik befragen zu lassen, scheint es lichterloh zu brennen.
Wie gestern Abend. In der eigenen Partei wie in der Öffentlichkeit rumort es schon seit längerem, die Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik und ihrer Entscheidung, die Grenzen Deutschlands für Schutzsuchende zu öffnen, nimmt kein Ende, wird vielmehr von Tag zu Tag lauter. In der „Anne Will“verteidigte sie dagegen ihren Kurs und bekräftigte ihre Aussage, dass Deutschland es schaffe. Sie wolle keine falschen Versprechungen machen, sagte sie, „aber alle dürfen wissen, dass ich mit aller Kraft daran arbeite, dass es besser wird“. Deutschland sei ein „starkes Land“und ein „tolles Land“, deswegen habe sie die Zuversicht und den Optimismus, dass Deutschland „historische Bewährungsprobe“bestehe.
Den Vorwurf, erst durch ihr Handeln oder durch ihre Selfies mit Flüchtlingen den unkontrollierten Zustrom ausgelöst zu haben, wies Angela Merkel entschieden zurück. „Ich habe diese Situation nicht herbeigeführt.“Auch liege es nicht in ihrer Macht, wie viele Menschen nach Deutschland kommen. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, im eigenen Land zu geordneten Verfahren zurückzukommen, in Europa die Außengrenzen wieder besser zu sichern und weltweit die Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. „Dazu brauchen wir Verbündete.“Ein Schließen der deutschen Grenzen komme hingegen nicht in Frage. „Wie soll das funktionieren?“
Ob Merkels optimistische Worte und ihr Werben um Verständnis ihre Wirkung entfalten? Die Stimmung an der Basis ist schlecht, sehr schlecht. Dies belegt ein Brandbrief, den 34 Funktionäre der CDU, unter ihnen etliche Landtagsabgeordnete, Kreis- und Ortsvorsitzende sowie Bürgermeister, aber keine Bundestagsabgeordneten, an die Kanzlerin geschrieben haben. Schon der erste ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Wir wenden uns an Sie mit großer Sorge um die Zukunft unseres Landes und Europas“, schrieben die Unterzeichner. Zwar freuten sie sich „über die Willkommenskultur in unserem Land sowie die großartigen Anstrengungen der hauptamtlichen und ehrenamtlichen Helfer“, zudem entspreche die Hilfe für Flüchtlinge der Programmatik der CDU, dennoch seien die Aufnahmekapazitäten Deutschlands „bis an die Grenzen gespannt und an manchen Orten bereits erschöpft“.
Damit nicht genug. Ohne Angela Merkel ausdrücklich beim Namen zu nennen und die Kanzlerin direkt zu attackieren, kritisierten sie in scharfen Worten die von der Regierungschefin eingeleitete Wende in der Flüchtlingspolitik. „Die gegendiese wärtig praktizierte ,Politik der offenen Grenzen’ entspricht weder dem europäischen oder deutschen Recht, noch steht sie im Einklang mit dem Programm der CDU“, schrieben sie in Fettbuchstaben. „Ein großer Teil der Mitglieder und Wähler unserer Partei fühlt sich daher von der gegenwärtigen Linie der CDU-geführten Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik nicht mehr vertreten.“Eindringlich forderten sie die Kanzlerin auf, „zeitnah Maßnahmen zu ergreifen, die den gegenwärtigen Flüchtlingszustrom zügig und effektiv verringern“. So solle die Bundesregierung „und Sie persönlich“über Zeitungsanzeigen in den Hauptherkunftsländern sowie über soziale Netzwerke verbreiten, „dass nicht politisch verfolgte Flüchtlinge kein Recht haben, nach Deutschland zu kommen und zügig abgeschoben werden“. Die gegenwärtige Situation der faktisch offenen Grenzen stelle nicht nur die Souveränität Deutschlands und der EU infrage, sondern schaffe auch das Risiko, dass die Aufnahmefähigkeit wie die Aufnahmebereitschaft überfordert würden. „Eine Fortsetzung des ungebremsten Zuzugs geSatz fährdet den inneren Frieden und spielt Radikalen und Extremisten verschiedener Couleur in die Hände.“
Mit diesem Brief hat die Kritik an Merkel eine neue Dimension erreicht. Selbst altgediente Christdemokraten können sich nicht erinnern, dass in der Vergangenheit sonst so loyale und treue Orts- und Kreisvorsitzende derart deutlich mit der eigenen Parteispitze ins Gericht gegangen sind. „Das hätte es unter Helmut Kohl nicht gegeben“, heißt es. CDU-Abgeordnete berichten schon seit längerem, dass die Stimmung an der Parteibasis äußerst schlecht sei und die Kanzlerin persönlich für den ungebremsten Zustrom an Flüchtlingen verantwortlich gemacht werde. In Mails und Briefen würden selbst langjährige CDU-Mitglieder Merkels „einsame Entscheidung“ablehnen, mit dem Austritt aus der Partei drohen oder gar ihren Austritt erklären. „Es kocht an der Basis“, bestätigte der Karlsruher CDU-Parlamentarier Axel E. Fischer gegenüber unserer Zeitung. „Alle erwarten, dass sie endlich das klare Signal aussendet: Die Kapazitäten sind erschöpft.“
„Wir wenden uns an Sie mit großer Sorge um die Zukunft unseres Landes ...“