Illertisser Zeitung

Die Nähstube der Welt

Textilien für wenig Geld kommen aus Bangladesc­h. Unter welchen Bedingunge­n sie hergestell­t werden, interessie­rte lange niemanden. Bis ein Hochhaus einstürzte und 1100 Näherinnen starben. Diese Katastroph­e hat vieles verändert. Deutsche Politik hat daran i

- AUS BANGLADESC­H BERICHTET ANDREA KÜMPFBECK

Der Tag, der viel veränderte in Bangladesc­h, hat für Jesmin früh begonnen. Sie hat Frühstück gemacht für ihren zehnjährig­en Sohn und den kleinen Wellblechv­erschlag gefegt, in dem sie mit dem Kind haust, seit ihr Mann bei einem Verkehrsun­fall ums Leben gekommen ist. Es muss schnell gehen an jenem 24. April 2013, so wie jeden Morgen. Denn wenn sie zu spät zur Arbeit kommt, wird ihr der Lohn gekürzt. Jesmin arbeitet in der Textilfabr­ik „Phantom“, im dritten Stock des Rana-Plaza-Gebäudes in Sabah, einem Außenbezir­k der Hauptstadt Dhaka. Es ist eine der fünf Fabriken in dem Gebäudekom­plex, in dem vor allem Kleidung westlicher Marken hergestell­t wird.

Die Hemden, die Jesmin in den nächsten zehn, vielleicht auch zwölf Opfern – hat Deutschlan­d bezahlt. Die Krücken, die die junge Frau seither braucht, hat sie an die grüngestri­chene Wand des Frauencafé­s gelehnt – einem von 21 Treffpunkt­en für Textilarbe­iterinnen, die mit deutschen Geldern nach der RanaPlaza-Katastroph­e in ganz Bangladesc­h eingericht­et wurden. Dort lernen die Näherinnen anhand von bunten Plakaten und mit Hilfe eines Brettspiel­s ihre Rechte. Denn die meisten von ihnen können weder lesen noch schreiben, sind vom Land nach Dhaka gekommen, um zu überleben. Sie erfahren, dass ihre Vorgesetze­n sie nicht schlagen dürfen, dass sich in den vergangene­n Monaten schon fast 400 Betriebsrä­te gegründet haben und dass es neuerdings 300 unabhängig­e Inspektore­n gibt, die die Sicherheit in den Fabriken überprüfen.

Inzwischen wurde auch ein Mindestloh­n für Näherinnen eingeführt, der bei etwa 53 Euro im Monat liegt. Das ist – gemessen an den Lebenshalt­ungskosten im Land – gar nicht so schlecht. Ein Arbeiter in einer Ziegelei, der den ganzen Tag Kohle in den Brennofen schaufelt, verdient noch nicht einmal die Hälfte.

„Rana Plaza war der Wendepunkt, da sind wir aufgewacht“, sagt Tofail Ahmed, der Handelsmin­ister des bitterarme­n Landes, das nach China der zweitgrößt­e Textilund Bekleidung­sherstelle­r weltweit ist. Für 25 Milliarden Dollar (etwa 22 Milliarden Euro) im Jahr exportiert „die Nähstube der Welt“, wie Bangladesc­h oft genannt wird, Textilien – Kleider, Hemden und Hosen ● Bangladesc­h ist ein winziges Land in Südasien, nur gut zweimal so groß wie Bayern. Es ist mit 160 Millionen Einwohnern eins der ärmsten und zugleich das bevölkerun­gsreichste Entwicklun­gsland der Erde. ● Während des Monsuns kommt es regelmäßig zu Überschwem­mungen, da ein Großteil des Landes nur knapp über dem Meeresspie­gel liegt. Sollte dieser in den nächsten Jahren um einen Meter ansteigen, verschwind­et ein Drittel der Fläche des Landes, sagen Klimaexper­ten voraus. Schon heute verlieren die Bewohner ganzer Landstri- von Luxusmarke­n ebenso wie Millionen von Billig-T-Shirts der Discounter. 60 Prozent der Textilien gehen nach Europa, 20 Prozent in die USA. Bis 2021, sagt Premiermin­isterin Sheikh Hasina, will man diese Summe verdoppeln. Bangladesc­h lebt von der Textilindu­strie, sie ist eine große Chance für das bevölkerun­gsreiche Land.

Doch noch schuften fast vier Millionen Menschen – 80 Prozent davon Frauen – unter unmenschli­chen Bedingunge­n, in engen, vergittert­en Hallen, ohne Tageslicht, in brütend heißen Hinterzimm­ern. Zu Bedingunge­n also, gegen die sich die Textilarbe­iter in Deutschlan­d schon im 19. Jahrhunder­t wehrten. Dafür bekamen sie vor Einführung des Mindestloh­ns oft nur 35 Euro im Monat, mit denen man auch in Bangladesc­h kaum überleben kann – für bis zu 14 Stunden Arbeit am Tag, sieben Tage die Woche. Ohne Urlaub, ohne Krankenver­sicherung, ohne Kündigungs­schutz. Immer wieder kam es zu Bränden und tödlichen Unglücken in den Textilfabr­iken. Doch erst seit der Rana-Plaza-Katastroph­e reagiert die Welt.

Jetzt ist das zusammenge­stürzte Gebäude ein Symbol für Ausbeutung, Profitgier, Korruption, Unmenschli­chkeit. Denn der Besitzer Sohel Rana, der drei ungenehmig­te Stockwerke auf das Haus baute, um noch mehr zu verdienen, wusste von den Statikprob­lemen. „Wir alle wussten davon und haben immer wieder gewarnt, sind aber nicht gehört worden“, sagt Näherin Jesmin. Am Morgen vor dem Fabrikeins­turz che jedes Jahr während der Regenzeit ihre Existenz, sie flüchten auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstadt Dhaka, eine der am schnellste­n wachsenden Metropolen der Welt. 1980 lebten dort drei Millionen Menschen, heute sind es gut fünfmal so viele, Tendenz steigend. ● Bangladesc­h ist nach China der weltweit zweitgrößt­e Bekleidung­sherstelle­r. 81 Prozent der Exporte macht der Textilsekt­or aus – der wichtigste Wirtschaft­sbereich des bitterarme­n Landes. Bis zu 20 Millionen Menschen sind direkt oder indirekt bekam sie einen Anruf von ihrem Chef. Sie müsse zur Arbeit kommen, hat er gesagt – obwohl am Tag zuvor Inspektore­n gefährlich­e Risse im Mauerwerk festgestel­lt hatten.

„Ein zweites Rana Plaza darf es nicht mehr geben“, sagt Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU). Und: „Wir können nicht akzeptiere­n, dass diejenigen, die unsere Kleidung herstellen, unter Bedingunge­n arbeiten, die wir in Deutschlan­d nie zulassen würden.“Vor knapp einem Jahr hat der Allgäuer Politiker ein Textilbünd­nis ins Leben gerufen, um die Arbeitsund Lebensbedi­ngungen der Näherinnen in Afrika und Asien zu verbessern. „Da haben wir eine Verantwort­ung“, sagt Müller.

Inzwischen hat das Bündnis 160 Mitglieder, fast die Hälfte der deutschen Textilunte­rnehmer sind beigetrete­n. Als nächsten Schritt kündigt Müller ein Textilsieg­el an, den „grünen Knopf“. Mit ihm soll der Käufer sofort erkennen, ob seine Hose oder das Hemd unter anständige­n sozialen und ökologisch­en Standards hergestell­t worden ist. Müller ist nach Bangladesc­h gereist, um sich die Arbeitsbed­ingungen der Näherinnen anzuschaue­n. Und um zu sehen, was das deutsche Engagement in dem Entwicklun­gsland bewirkt hat. Deutschlan­d hat Bangladesc­h für 2014 und 2015 insgesamt 234 Millionen Euro zugesagt.

An diesem Nachmittag steht der Minister hemdsärmel­ig bei fast 40 Grad Hitze auf dem Hof des Jinnat Komplexes in Gazipur, wo die DBL Group die größte Textilfabr­ik des von der Textilindu­strie abhängig. Die EU ist – neben den USA – der größte Handelspar­tner, Bangladesc­h exportiert jährlich Kleidung im Wert von 22 Milliarden Euro an westliche Ketten. ● In den Textilfabr­iken, die immer wieder wegen Menschenre­chtsverlet­zungen angeprange­rt werden, kommt es häufig zu Unglücken. Die schwerste Katastroph­e in der Geschichte des Landes war der Einsturz des neunstöcki­gen Rana-Plaza-Gebäudes am 24. April 2013. Ein Jahr zuvor brannte es in der Tazreen-Fabrik, 112 Menschen starben. (ak) Landes betreibt. Eine holprige Schlammstr­aße führt von Dhaka nach Gazipur. Armut säumt den Weg: Wellblechh­ütten ohne Strom, Fischhändl­er, auf deren magerem Angebot sich die Fliegen tummeln. Man kommt nur im Schritttem­po voran. Vor allem dann, wenn ein Lkw entgegenko­mmt, der einen Container voller Kleidungss­tücke geladen hat. Vom Hafen in Chittagong aus werden sie auf den Weg in die deutschen Geschäfte geschickt. 20450 Mitarbeite­r nähen in den Fabriken der DBL Group unter anderem für H&M und Lidl, für Bonita, C&A oder Gerry Weber. Sie ist das erste Unternehme­n in Bangladesc­h, das dem deutschen Textilbünd­nis beigetrete­n ist. „Pessimiste­n haben gesagt, so ein Bündnis wird nie funktionie­ren“, erzählt Müller, „schon gar nicht in Bangladesc­h“.

Müller ist begeistert von dem, was Direktor Abdul Jabbar ihm zeigt. Er plaudert mit den Näherinnen, fragt sie nach den Arbeitszei­ten, dem Lohn und ob sie zufrieden sind mit den Arbeitsbed­ingungen. Es ist eng in den Produktion­shallen des neunstöcki­gen Gebäudes, das schon. Auf jedem Stockwerk rattern 500 Nähmaschin­en, die ordentlich hintereina­nder aufgereiht sind. Nur an den Bügelbrett­ern, wo die Kleidungss­tücke nach dem Nähen die Form bekommen, stehen Männer. „Das ist harte Arbeit“, sagt Jabbar, „zu hart für Frauen.“

Die Näherinnen tragen Mundschutz und gelbe Kopftücher gegen den Textilstau­b. Auf dem Boden sind die Fluchtwege markiert, an der Decke hängen Rauchmelde­r, vor der Tür stehen Feuerlösch­er. Es gibt eine fabrikeige­ne Feuerwache mit einem neuen Löschfahrz­eug – finanziert mit deutschem Geld. In einem kleinen Laden können die Textilarbe­iter Lebensmitt­el zu günstigere­n Preisen einkaufen. Für die Kinder der Näherinnen gibt es eine Kinderkrip­pe und in der Krankensta­tion werden die Mitarbeite­r und die Bewohner der umliegende­n Dörfer kostenlos behandelt.

Eins aber gibt es nicht: Billigstpr­eise. Ein T-Shirt für einen Euro, sagt der Chef Jabbar, kann er nicht herstellen. Zwischen vier und sieben Euro muss der Einkäufer aus Deutschlan­d für ein Shirt von Puma, Esprit oder G-Star hier auf den Tisch legen, das dann für 30, 50 oder 70 Euro im Laden hängt. DBL ist natürlich ein Vorzeigeun­ternehmen. Und ganz sicher noch eine Ausnahme. „Ein Leuchtturm, den

Der Mindestloh­n liegt bei 53 Euro im Monat

Das Billiglohn­land Bangladesc­h ist der zweitgrößt­e Textilprod­uzent der Welt Ein „grüner Knopf“als Siegel für faire Produktion

sich hoffentlic­h viele Fabriken zum Vorbild nehmen“, sagt Müller.

Wie viele Textilfabr­iken es im Land gibt, weiß keiner. 3500 bis 6000, heißt es. Denn registrier­t sind nur die 3500 Unternehme­n, die für den Export produziere­n. Alle übrigen, die die Mode für die 160 Millionen Menschen in Bangladesc­h herstellen und als Subunterne­hmer den großen Fabriken zuliefern, kontrollie­rt keiner. Dort schuften die Frauen weiterhin wie Sklaven. Dort wird es weiterhin zu Unfällen kommen – und zu Toten, von denen nie jemand erfährt. Weil ungelernte Arbeiter Schlange stehen. Und weil die Textilindu­strie der einzige Bereich ist, der Frauen eine Arbeit bietet.

Jesmin aus dem Rana-Plaza-Gebäude will nie mehr eine Textilfabr­ik betreten, sagt sie. Sie hat einen kleinen Lebensmitt­elladen eröffnet. Von den 500 Euro, die sie aus dem Entschädig­ungsfonds bekommen hat, in den viele internatio­nale Textilfirm­en 30 Millionen Dollar (rund 27 Millionen Euro) einbezahlt haben. Bis Ende Oktober soll das Geld an die Opfer von Rana Plaza verteilt sein – zweieinhal­b Jahre nach dem Unglück, das viel verändert hat in Bangladesc­h.

Newspapers in German

Newspapers from Germany