Die Schläge nach dem Schuss
Vor dem Landgericht Ingolstadt wird ein juristisch komplizierter Fall verhandelt
Er habe schon am Gartentor zur Straße gestanden, habe die Hand auf der Klinke gehabt, habe nur weg gewollt. Weil er gewusst habe, dass ihr Streit noch schlimmer werden könnte. Und dann habe Mario W. diesen Satz gesagt: „Du musst auf deine Kinder aufpassen, sonst gibt es Ärger.“W. habe da bereits hinter ihm gestanden. Er sei ihm hintergekommen und in den Lauf der Ceska Kaliber 7,65 in dessen Hand, in den habe er hineinschauen können. Und dann der Satz: Er solle besser auf seine Kinder aufpassen.
Der Mann auf der Anklagebank, ein 47-jähriger Ingolstädter, schmal, zäh, markante Gesichtszüge, spricht mit sehr tiefer, ruhiger, vom Akzent etwas gebrochener Stimme: „Das war ein bisschen viel für mich.“Und: „Ich war schon extrem.“
Es ist der zweite Tag im sogenannten Streiterstraßen-Prozess am Landgericht Ingolstadt. Der gebürtige Kasache muss sich wegen versuchten Totschlags verantworten.
Am Morgen des 3. September 2013 kommt es auf der Streiterstraße von Ingolstadt zu der tödlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Kickboxpromoter Mario W.. Es ist ein vielversprechender Spätsommertag. Die Ferien sind noch nicht vorbei, Morgenlicht flutet das gutbürgerliche Westviertel von Ingolstadt. Alt-Oberbürgermeister Peter Schnell wohnt zum Beispiel hier.
Auch er hört einen Schuss an diesem Morgen. Er fällt, wenn das Geständnis des Angeklagten so stimmt, kurz nach diesem gefährlichen Satz mit den Kindern. Der Angeklagte ist Masseur. Er ist aber auch beim Militär ausgebildet worden und er beherrscht die Kampfkunst Tai Chi. Er habe W. in den Arm gegriffen, die Waffe umgedreht und dann habe sich der Schuss gelöst. Dass die Waffe geladen gewesen sei, davon sei er ausgegangen. Nicht aber, dass sie auch entsichert war. Die Kugel dringt in den Brustkorb von W. und die Obduktion ergibt später, dass allein dieser Schuss schon tödlich war.
Der frühere Geschäftspartner von W. aber denkt – so sagte er gestern vor Gericht – dass seine eigene Hand durchlöchert ist. Wegen des Schusses habe sie gebrannt und die Handfläche sei aufgerissen gewesen. Und so habe er begonnen „aus Angst und Wut“auf den allerdings bereits tödlich verletzten W. einzuschlagen. „Da war alles abgeschaltet. Das ist automatisch passiert.“Irgendwann, als er das Blut bemerkte, sei er dann wieder zu sich gekommen.
Der Fall ist juristisch komplex. Denn aus Sicht von Staatsanwalt Jürgen Staudt ist zwar der Schuss noch Notwehr gewesen. Da aber die Schläge nach dem Schuss auch tödlich hätten sein können, muss sich der Angeklagte nun wegen versuchten Totschlags verantworten. Und das, obwohl W. ja starb. Denn, so argumentiert die Staatsanwaltschaft weiter, der frühere Geschäftspartner von W. habe in der Kampfsituation nicht wissen können, dass dieser tödlich getroffen war. Durch die heftigen Schläge habe er dessen Tod zumindest billigend in Kauf genommen.
Der Grund für den Streit übrigens: Geld. W. habe ihm noch einen fünfstelligen Betrag geschuldet. Und als W. ihm an diesem Morgen in der Laube sagte, dass er nicht zahlen werde, habe er zur Polizei gewollt, wie der Angeklagte gestern sagte. Die kam kurz darauf auch. Allerdings aus anderen Gründen.