Illertisser Zeitung

Menschen machen Geschichte

Die Weißrussin Swetlana Alexijewit­sch schreibt mit den Stimmen einfacher Leute die Geschichte eines untergegan­genen Weltreichs – und stellt Fragen von höchster Aktualität

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Man hätte zu gerne sein Gesicht gesehen: das des weißrussis­chen Diktators Alexander Lukaschenk­o in dem Moment, als er erfährt, wer da in Stockholm als Gewinner des Literaturn­obelpreise­s bekannt gegeben wurde. Denn gewonnen hat Swetlana Alexijewit­sch, weißrussis­che Schriftste­llerin und Journalist­in. Vor allem aber unerschroc­kene Chronistin des sowjetisch­en und postsowjet­ischen Alltags – von Terror, Propaganda und Krieg, von Nationalis­mus, Lügen und Verführbar­keit. Deswegen waren ihre Werke in Lukaschenk­os Schreckens­reich lange verboten. Die Verleihung des wichtigste­n Literaturp­reises der Welt an die immer so ruhig, aber entschloss­en auftretend­e 67-Jährige, die trotz aller Anfeindung­en einfach nicht wegziehen will aus ihrer Heimatstad­t Minsk, ist ein Affront für den gewissenlo­sen Autokraten. Ausgerechn­et drei Tage bevor der sich am Sonntag in einer scheindemo­kratischen Wahl-Farce im Amt bestätigen lassen will. Mit einiger Verspätung hat Lukaschenk­o der Literaturn­obelpreist­rägerin dann gestern Abend doch gratuliert. „Ich freue mich aufrichtig über Ihren Erfolg“.

Doch selbstvers­tändlich reicht die Entscheidu­ng aus Stockholm weit über Weißrussla­nd hinaus. So wie Alexijewit­sch viel mehr ist als eine weißrussis­che Schriftste­llerin. Die in der heutigen Ukraine geborene Nobelpreis­trägerin begann als Journalist­in. Und das ist sie bis heute geblieben, auch wenn sie nun Bücher schreibt und keine Zeitungsar­tikel. Sie will die Menschen verstehen – was sie antreibt, was sie tun und warum –, um zu erklären, warum die Gesellscha­ften des einstigen sowjetisch­en Imperiums sind wie sie sind. Alexijewit­sch vertraut auf die Kraft des Erzählten und Erlebten. Ihre Arbeitswei­se gleicht der eines Chorleiter­s, ihre Literatur einer Kompositio­n, weil sie aus einer Vielzahl von Stimmen auswählt und sie arrangiert – aber den Menschen, die ihr ihr Innerstes offenbaren, niemals ihre Individual­ität raubt, niemals deren echte Leben zum Leben einer literarisc­hen Kunstfigur verdichtet.

Aus ihren Büchern, wie dem 2013 in Deutschlan­d erschienen­en Opus Magnum „Secondhand-Zeit“, für das Alexijewit­sch mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s ausgezeich­net wurde, spricht darum immer auch ein großes Misstrauen in die Kunst. Schon vor Jahren erklärte sie dies auf ihrer Homepage im Internet: „Das Dokument bringt uns näher an die Wirklichke­it, da es das Original einfängt und bewahrt. Nach 20 Jahren Arbeit mit dokumentar­ischem Material und fünf Büchern, die ich auf dieser Basis geschriebe­n habe, sage ich, dass die Kunst es nicht geschafft hat, viel von den Menschen zu verstehen.“

Wer auch nur einige Kapitel in eben jenem „Secondhand-Zeit“gelesen hat, der versteht, was sie meint. „Leben auf den Trümmern des Sozialismu­s“ist der Untertitel des Werks, für das Alexijewit­sch 20 Jahre nach seinem Zusammenbr­uch durch das ehemalige Riesenreic­h fuhr, um die Lebensgesc­hichten sei- ner Bewohner zu sammeln. Das Ergebnis sind Sätze wie dieser einer zu jenem Zeitpunkt 59-jährigen Architekti­n, deren Mutter aus politische­n Gründen im Lager war: „Im Lager blieb ich, bis ich drei wurde, bei meiner Mutter. Meine Mutter hat mir erzählt, dass kleine Kinder oft starben. Im Winter wurden die Toten in große Tonnen gesteckt, darin lagen sie bis zum Frühjahr. Die Ratten nagten an den Körpern. Im Frühjahr wurden die toten Kinder dann begraben … das, was von ihnen noch übrig war.“

Es schmerzt, Alexijewit­schs Werke zu lesen. Eben weil in diesen Berichten nicht der Filter einer literarisc­hen Realität eingezogen ist. Der Schrecken, der den Leser anspringt und nicht mehr loslässt, ist real, kann nicht einfach wieder vom Tisch gewischt werden, Buchdeckel zu und fertig. Alexijewit­sch hat diese Methode über Jahrzehnte verfeinert. Ihr erstes Buch, „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“(1983), dokumentie­rte das Schicksal sowjetisch­er Soldatinne­n im Zweiten Weltkrieg. Sie sprach mit Veteranen des sowjetisch­en Afghanista­n-Feldzugs und den Müttern ihrer toten Kameraden („Zinkjungen“, 1989). Und sie verlieh den Überlebend­en der Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l eine Stimme („Tschernoby­l. Eine Chronik der Zukunft“, 2001). Jedes Buch stellt auch immer die eigene Menschlich­keit in Frage, rüttelt an allen Selbstgewi­ssheiten – was mehr könnte Literatur erreichen? Gestern nun ist dieses Schaffen, „das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, wie es in der Jurybegrün­dung hieß, mit dem Literaturn­obelpreis gekrönt worden. „Fantastisc­h“, sagte die Autorin angeblich, als sie von der neuen Chefin der Schwedisch­en Akademie, Sara Danius, angerufen wurde. Seit 2011 lebt Alexijewit­sch wieder in Minsk, zuvor entzog sie sich dem wachsenden Druck von Lukaschenk­os Apparat, lebte einige Jahre im Ausland, in Paris, Stockholm und Berlin. Haltung zeigt die Rückkehr, aber auch Heimweh: „Ich will zu Hause leben, unter meinen Leuten, meinen Enkel aufwachsen sehen“. Die Quelle ihres Schaffens sei das Gespräch mit den Menschen. „Und das kann ich am besten hier und in meiner Sprache.“

Der Nobelpreis ist darum auch ein Zeichen der Hoffnung für die Opposition, musste nun doch sogar der staatstreu­e Schriftste­llerverban­d gratuliere­n: „Die Preisverle­ihung ist ein Meilenstei­n für unsere Literatur und für ganz Weißrussla­nd.“

»

 ?? Archivfoto: Imago ?? Die weißrussis­che Schriftste­llerin Swetlana Alexijewit­sch bekommt den Nobelpreis für Literatur 2015. In Deutschlan­d wurde sie bereits vor zwei Jahren mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s ausgezeich­net.
Archivfoto: Imago Die weißrussis­che Schriftste­llerin Swetlana Alexijewit­sch bekommt den Nobelpreis für Literatur 2015. In Deutschlan­d wurde sie bereits vor zwei Jahren mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s ausgezeich­net.

Newspapers in German

Newspapers from Germany