Illertisser Zeitung

Tapferer Träumer von der traurigen Gestalt

Im Podium kämpft ein Don Quijote der Gegenwart gegen die brutale Realität. Das ist amüsant und tiefsinnig

- VON DAGMAR HUB

Tatsachen sind die Feinde der Wahrheit. Der inszeniert­en Wahrheit. Das musste Don Quijote in Miguel de Cervantes’ Roman erfahren, und das erfährt er in der amüsanttie­fsinnigen und stringent durchdacht­en Inszenieru­ng, die Martin Borowski und Julia Baukus mit dem Jugendklub Schauspiel am Theater Ulm erarbeitet­en. Don Quijote kommt darin in der Realität des 21. Jahrhunder­ts an. Die steht den Träumen von Ritterlich­keit und Edelmut mindestens so krass gegenüber wie das beginnende 17. Jahrhunder­t, in dem Cervantes’ legendärer Roman entstand.

Ein Jugendlich­er, ein MobbingOpf­er auf der Straße, regelmäßig gedemütigt, bestohlen und verprügelt von der Gang eines Mädchens, die die Straße beherrscht: David Rau gibt dem Jungen, der ständig vor dieser Gang auf der Flucht ist und ihr doch immer wieder in die Finger gerät, ein Gesicht. Dieser Jugendlich­e flieht aus der brutalen Realität in seine fantastisc­he Idee – er denkt sich in eine Welt hinein, in der er ein mutiger Ritter ist, in der er Abenteuer bestehen, heldenhaft retten, rächen und sein Edelfräule­in lieben kann. Die schlichte, bodenständ­ige Werbezette­l-Verteileri­n Sandra Panzer (Urszula Uzdowska) wird zum Sancho Panza des selbst ernannten Don Quijote – aus dem treuen, aber eigennützi­gen Glauben heraus, über den Ritter zu eigenem Ruhm und Besitz zu kommen.

Im Perspektiv­enwechsel erlebt der Zuschauer die Eigensicht des selbst ernannten Ritters auf sich und seine mutigen Abenteuer – und die Tatsachenw­elt: Um den Helm des Mambrin muss Don Quijote so wenig kämpfen wie bei Cervantes – eine verschreck­te Frau überlässt ihm ihren Fahrradhel­m. Auf ähnliche Weise kommt der moderne Don Quijote zu einem Regenschir­m als Schild und einem Spaziersto­ck als Schwert, und sein Reittier Rocinante ist der Besen eines Straßenkeh­rers. Doch ob er den Girlie-Bitches (Aylin Ergün, Andrea Jeremic) auf der Straße begegnet oder den kichernden Mädels, die in ihm einen „Vollhonk“sehen – der Ritter von der mit all diesen Accessoire­s wahrlich traurigen Gestalt will nicht sehen, dass seine selbst geschaffen­e Wahrheit von Ritterlich­keit und mutigen Taten, die die Welt in Marmor hauen werde, der Realität keinen Moment standhält.

Martin Borowskis Inszenieru­ng schafft eindrucksv­olle Momente. Das freundlich­e Mädchen (Joanna Park), in dem der gedemütigt­e Jugendlich­e in seiner Fantasiewe­lt seine Dulcinea sieht, und die üble Straßengör­e (Marina Mattern), die für ihn zum Zauberer Frestón mutiert, singen – zur Linken wie zur Rechten des Träumers – den Eurythmics­Song „Sweet dreams“, und die Obdachlose mit ihrem Besitz im Einkaufswa­gen hält sich von den Freundlich­keiten des seltsamen „Ritters“lieber fern.

Die Konfrontat­ion mit dem IstZustand der Straße, in der der Jugendlich­e Opfer ist, ist unausweich­lich. Der Brutalität der Gang, die ihn zusammensc­hlägt, die ihn demütigt und die seine Bücher in den Schmutz tritt, entkommt der Don Quijote des 21. Jahrhunder­ts nicht durch die Flucht in Träume, in denen er sich als gütig-ritterlich­er Retter sieht.

Ein kleiner Trost bleibt immerhin: Als es fast zu spät ist, zeigt die Gesellscha­ft um das Opfer Zivilcoura­ge und Hilfsberei­tschaft. Erst dann oder immerhin dann?

Weitere Aufführung­en von „Don Quijote“gibt es im Podium am 2., 14., 17. und 19. Mai.

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Foto: Hermann Posch David Rau spielt am Theater Ulm einen Jungen, der aus der brutalen Realität in eine Fantasiewe­lt flieht und dort zum mutigen Ritter wird.

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