Wenn der geliebte Partner zum Fremden wird
Lange Zeit litt Viktoria Baur unter Schuldgefühlen, nachdem sie ihren Ehemann in einem Pflegeheim unterbringen musste. Wie die 79-Jährige aus Vöhringen jetzt mit der Demenz ihres Gatten umgeht
„Ich nehme dich an in guten und schweren Tagen, in Gesundheit und Krankheit“: Diese Trauformel ist ein Versprechen, einander beizustehen, wenn das Schicksal in seiner Unberechenbarkeit das Leben von zwei Menschen von Grund auf verändert. Das erlebt und durchleidet seit einigen Jahren Viktoria Baur, sie löst das gegebene Versprechen ein mit festem Willen und bewundernswerter Kraft. Ihr Mann ist dement, erkennt sie nicht mehr, auch wenn sie jeden Tag ins Caritas-Centrum geht und ihrem Partner das Essen gibt. Hilflos muss sie zusehen, wie es ihrem Mann schlechter geht. Das Schlucken fällt ihm schwer. Aber sie gibt nicht auf, muntert ihn auf, „komm, noch ein bisschen“, wohl wissend, dass nicht mehr ankommt, was sie sagt. So ist jeder Tag für sie ein Stück Kreuz, das sie trägt, eine Last, die ihr nie zu viel wird. „Er ist doch mein Mann“, sagt sie dann nur, wenn man sie dafür bewundert, was sie tut.
Viktoria Baur ist 79 Jahre alt, was man ihr nicht ansieht. Über das, was sie bewegt, kann sie sprechen. Sie tut es langsam, mit Bedacht. „Angefangen hat alles vor Jahren mit der Diagnose Parkinson. Mein Mann war 65 Jahre alt.“Er war bei der Bundeswehr, arbeitete dort als Funkmeister und Fahrlehrer, war bekannt für seine Korrektheit und Zuverlässigkeit. Eines Tages bemerkte Viktoria Baur das Zittern der Hände. Das Paar suchte einen Arzt auf. „Er bekam Medikamente, das Leben ging weiter. Er konnte sogar noch Auto fahren.“
Aber dann kam der Tag, den Viktoria Baur nicht vergessen wird. Sie waren mit dem Auto unterwegs, fuhren die altbekannte Route nach Immendingen, damaliger Wohnsitz des Ehepaares. „Plötzlich fuhr mein Mann in eine Richtung, die nicht nach Hause führte.“Da war sie hellwach und wollte nicht wahrhaben, was sie annahm. Zu Parkinson kam jetzt Demenz. Die Ärzte bestätigten ihren Verdacht. Auch Ehemann Peter bemerkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er war im Vorstand des Schwarzwaldvereins vertreten. Der Vorsitzenden sagte er: „Ich lasse mich nicht mehr bei den nächsten Wahlen aufstellen, ich vergesse alles.“Da war auch Frau Viktoria klar, dass sie mit der schrecklichen Wahrheit jetzt zurechtkommen musste.
„Wir taten das, was wir uns schon lange vorgenommen hatten. Wir zo- gen wieder zurück nach hier, denn ich bin in Weißenhorn aufgewachsen.“Der Abschied aus der gewohnten Umgebung, aus dem Haus, wo die Familie mit zwei Kindern lange gelebt hatte, war für Peter Baur sehr schwer. Er wollte nicht loslassen. Aber was noch schlimmer für ihn war, er durfte und konnte nicht mehr Auto fahren. Als stets agiler und aufgeschlossener Mensch war Mobilität für ihn ein großes Stück Lebensqualität. „Das nicht mehr tun zu können, war hart, sehr hart“, sagt seine Frau leise.
In Vöhringen fanden sie eine hübsche Wohnung, aber das nahm Peter Baur schon nicht mehr zur Kenntnis. „Er setzte sich in einen Sessel und sprach immer weniger. Bis überhaupt kein Wort mehr über seine Lippen kam.“Viktoria Baur schweigt für einen Augenblick und ihr Blick gleitet durchs Fenster über die Häuser ihres Wohnviertels. Dann nimmt sie den Gesprächsfaden wieder auf. Sie wusste, dass Schweres auf sie zukommt, aber aufgeben, nein, das konnte und wollte sie nicht. So versuchte sie, ihren Mann jeden Tag hinaus an die frische Luft zu führen, spazieren zu gehen, sie an seiner Seite war sein fester Halt. „Leicht waren die Spaziergänge nicht, weil mein Mann nicht wollte.“Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er sich bevormundet fühlte. Seine Reaktionen ließen darauf schließen. „Das war manchmal heftig.“Mehr sagt Viktoria nicht dazu.
Sie war Sorgen und Fürsorgen gewöhnt. Mit 14 Jahren verlor sie ihre Mutter, gerade mal 41 Jahre alt. Viktoria war fünfzehn. „Wir waren neun Kinder. Ich wollte Friseurin werden, fand aber damals keine Lehrstelle, also lernte ich Haushalt.“Wie nützlich diese Ausbildung für sie werden würde, merkte sie, als die Mutter nicht mehr da war. Viktoria trug die große Last und auch die Verantwortung für die Familie. Der Vater ging zur Arbeit, also versorgte sie die Familie.
In der Pflege ihres Mannes wurde sie nicht allein gelassen. Krankenschwestern aus der Caritas-Sozialstation kamen zur Hilfe.
Aber dann kam der Moment, wo Viktoria Baur nicht mehr konnte. „Es stellte sich für mich die Frage, ob ich meinen Mann ins Heim geben sollte.“Für sie war es wohl die schwierigste Entscheidung in ihrem Leben. „Ich konnte doch meinen Mann nicht abschieben.“Andererseits waren ihre Kräfte begrenzt, wie sie selbst merkte. „Dieser Prozess, ob ich meinen Mann jemand anders anvertrauen konnte, dauerte sehr lange.“Als es dann soweit war, wusste sie ihren Mann im IllersenioCentrum gut aufgehoben. „Man kann die Schwestern in der beschützten Abteilung nur bewundern für ihre Fachkenntnis. Mehr noch für ihre Geduld und Zuwendung.“
Vier Jahre ist ihr Mann nun schon in stationärer Pflege, liegt im Bett und Viktoria sitzt an seiner Seite und gibt ihm das Essen. „Er will nicht mehr essen, ich versuche alles, er ist doch mein Mann.“
Dann unterbricht sie das Gespräch. Sie hat feuchte Augen, kämpft mit den Tränen. „Man kann sich nicht vorstellen, welche Schuldgefühle ich mit mir herumschleppte. Ich hatte immer das Gefühl, du hast deinen Mann nach glücklicher Ehe abgeschoben.“Auch wenn jeder ihr gut zuredete, dass dies kein Abschieben sei, sondern Hilfe annehmen, er sei doch in bester Obhut – ein Trost war es für sie nicht.
Ganz langsam, nach zwei Jahren, sagt Viktoria Baur, ließ das Schuldgefühl ein wenig nach. Und manchmal, wenn sie nach den Händen ihres Mannes greift, spürt sie einen leichten Gegendruck. Ein glücklicher Moment, vielleicht sogar ein Zeichen, dass er weiß, wer neben ihm sitzt. Vielleicht.