Und dann stechen sie mit langen Messern zu
Wieder wird Großbritannien Ziel eines Terrorangriffs. Zum dritten Mal innerhalb von drei Monaten. Diesmal morden die Terroristen in London erst mit einem Kleintransporter und dann zu Fuß. Wie die Stadt um ihre Opfer trauert – und ihre Helden feiert
Behutsam legt die Frau den Strauß Blumen an einem gelben Verkehrspoller nieder. Der Kontrast zwischen den rosafarbenen Blüten auf dem Asphalt der kleinen Verkehrsinsel und dem Grau dieses Tages könnte nicht größer sein. Sie hält kurz inne, wischt sich eine Träne aus dem Auge und blickt dann in Richtung der Absperrbänder, hinter denen jene Gegend liegt, wo sich sonst Touristen und Einheimische in Bars und Pubs tummeln, rote Doppeldeckerbusse im Stau stehen, Briten zur Arbeit eilen und ein historischer Lebensmittel-Markt auf kulinarische Weise die Welt in London zusammenbringt.
Nun herrscht im Herzen der Metropole gespenstische Stille. Lediglich einige Forensiker in weißen Anzügen durchforsten auf Spurensuche Zentimeter für Zentimeter die leeren Straßen. Am Samstag rannten hier unzählige Menschen um ihr Leben, als drei Terroristen einen verheerenden Anschlag verübten.
Es war kurz vor 22 Uhr. Rhiannon Owen, eine Krankenschwester in Ausbildung, hob gerade Geld am Automaten ab, als ein Taxifahrer neben ihr hielt und schrie: „Lauf, lauf.“Da sah sie bereits einen Mann mit einem langen Messer auf sie zukommen. Rhiannon begann – so schnell sie konnte – zu rennen und selbst, als ihr der Atem ausging und die Beine schwer wurden, lief sie weiter. In einem Pub suchte sie mit den anderen Gästen Schutz im Obergeschoss. Dort hörten sie, wie Sirenen den sommerlichen Abend erfüllten und Blaulichter die Nacht erhellten.
Zuvor hatten drei Männer in einem weißen Lieferwagen Passanten auf der berühmten London Bridge überfahren. Dann sprangen sie aus dem Van, attackierten Menschen mit Messern und stürmten in die Bars und Restaurants des Ausgehviertels rund um den Borough Market. Auch hier stachen sie wahllos auf Feiernde ein, einige der Angegriffenen wehrten sich, warfen Stühle, Tische und Biergläser nach den Tätern, die Vorrichtungen am Körper trugen, die wie Sprengstoffwesten aussahen.
„Wegrennen, verstecken, andere informieren“, so lautete die Aufforderung der Polizei bereits kurz nach dem ersten Notruf. Nur acht Minuten danach waren die Beamten zur Stelle und erschossen die drei Angreifer. Trotz des schnellen Eingreifens wurden sieben Menschen getötet, darunter eine Kanadierin, die für ihren Verlobten nach London gezogen war, und ein Franzose. Dutzende Menschen wurden teils schwer verletzt.
Auch Polizisten, die auf der Insel seither für ihren schnellen Eingriff und Mut gefeiert werden, erlitten Verletzungen. So stieß ein Verkehrspolizist vor der U-Bahn-Stati- on auf die Angreifer und versuchte, diese allein mit einem Schlagstock niederzustrecken. Er wurde dabei schwer verletzt. In der Regel tragen die Bobbies, wie die Ordnungshüter mit den glockenförmigen Hüten genannt werden, keine Waffe.
Obwohl die Stadt erschüttert ist, zeigen die Menschen in den vergangenen Tagen vor allem eines: Trotz. Der Alltag geht weiter. „Wir dürfen nicht nachgeben, sondern müssen den Geist dieser vielfältigen, multikulturellen und geeinten Gemeinschaft aufrechterhalten“, befand die Engländerin Sarah und sprach damit für etliche Londoner, die sich ähnlich äußerten. Sie war wie tausende andere Briten gestern bereits wieder auf der London Bridge unterwegs zur Arbeit.
Einige reagierten mit ihrem berühmten englischen Humor auf die Tragödie. Etwa als ein Foto von der Horrornacht die Runde machte, auf dem unter den Wegrennenden ein Mann mit einem Pint Bier zu sehen ist, tweetete ein Nutzer: „Die Leute rennen von der London Bridge weg, aber dieser Kerl verschüttet keinen Tropfen. Gott segne die Briten.“
Doch schon wieder versammelten sich gestern Abend Menschen zu einer Mahnwache, um all der Opfer zu gedenken. Schon wieder legten tausende Trauernde Blumen und bewegende Botschaften nieder. Londons beliebter Bürgermeister Sadiq Khan, selbst Muslim, hatte zu der Gedenkveranstaltung aufgerufen, „um der Welt zu zeigen, dass wir gemeinsam denjenigen entgegenstehen, die uns und unsere Lebensart schädigen wollen“.
Die Bilder der vergangenen Tage ähneln jenen von vor zwei Wochen in Manchester. Nach einem Konzert der US-Sängerin Ariana Grande hatte sich der Brite Salman Abedi, dessen Eltern aus Libyen stammen, im Foyer der Konzerthalle in die Luft gesprengt und 22 Menschen mit in den Tod gerissen. Während in London noch die Verletzten behandelt und die Toten identifiziert wurden, setzten in Manchester Weltstars sowie rund 50 000 Menschen ein Zeichen gegen den Terror.
Bei einem Benefizkonzert, das von Ariana Grande organisiert wurde, trat die US-amerikanische Sängerin mit einer Gruppe von Schulkindern auf, von denen einige selbst die Horrornacht miterlebten und mit Tränen in den Augen auf der Bühne standen. „One Love Manchester“, hieß das Motto, unter dem neben Grande Robbie Williams, Katy Perry, Miley Cyrus, Justin Bieber und Pharrell Williams auf Bühne standen. Es war ein bewegender Abend, der abermals zeigen sollte, „dass die Menschen in Manchester zusammenhalten und ein Zeichen setzen“, wie ein Fan betonte. Und es war ein Abend voller Emotionen: Hoffnung und Betroffenheit. Jubel und Tränen. Freude und Trauer. „Don’t look back in anger“, grölten tausende Menschen das berühmte Lied der Band Oasis. Es ist auf der Insel zur Anti-TerrorHymne geworden.
Zum dritten Mal innerhalb von gut zehn Wochen und nur wenige Tage vor den Parlamentswahlen am Donnerstag wurde das Vereinigte Königreich Ziel eines islamistischen Anschlags. „Die Abstimmung werde aber wie geplant stattfinden“, betonten Vertreter aller Parteien bereits Stunden nach der Attacke. Man dürfe nicht zulassen, dass Gewalt den demokratischen Prozess aufhalte. Aus Respekt vor den Opfern wollten die Politiker eigentlich ihren Wahlkampf für einen Tag aussetzen, wirklich funktioniert hat das Vorhaben angesichts der Brisanz des Themas jedoch nicht. Denn insbesondere die Tatsache, dass Premierministerin Theresa May vor der Übernahme des Regierungspostens im vergangenen Juli sechs Jahre lang Innenministerin war und in dieser ● Die älteste und eine der berühmtesten Brücken über die Themse. Nach mehreren Vorläufern wurde 1831 der Neubau eingeweiht. Als dieser nicht mehr den Anforderun gen des Straßenverkehrs entsprach, folgte 1968 der Verkauf der Brücke an eine US Ölfirma, die sie in der Wüste Arizonas wieder aufbaute. 1973 wurde die neue London Bridge eröffnet. Die rund 300 Meter lange mehrspurige Brücke kann von Fahrzeugen und Fußgängern überquert werden. ● Der Borough Mar ket ist einer der ältesten Lebensmit telmärkte Londons – und eine Touris tenattraktion. Es gibt dort vor allem biologische Lebensmittel und englische Leckereien sowie frischen Fisch. Um säumt von Pubs und kleinen Restau rants ist der Markt auch bei Einhei mischen sehr beliebt. (AZ) Zeit rund 20 000 Polizeistellen strich, sorgt für Kritik.
May kündigte am Sonntag in einer als scharf bezeichneten Rede Maßnahmen an. „Wir können und wir dürfen nicht so tun, als ob alles einfach so weitergehen könnte.“Etwas müsse sich ändern. „Genug ist genug“, sagte May. Etliche Beobachter verurteilten ihre Rede. „War es nicht schon nach dem Anschlag in Manchester genug? Oder nach jenem von Westminster?“, fragte eine Polit-Expertin. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte gestern Mays Rücktritt.
Auch der von May vorgeschlagene Vier-Punkte-Plan zog kritische Kommentare nach sich. Sie monierte etwa, dass Islamisten zu viele Rückzugsorte im Internet fänden, weshalb man den Kampf gegen die extremistische Ideologie auch online verschärfen wolle. Zudem sollten die Anstrengungen nicht nur gegen den Terrorismus, sondern gegen den radikalen Islam ausgeweitet werden. Außerdem forderte sie, Freiheitsstrafen für islamistische Extremisten zu erhöhen. „Was sie sagte, war erwartbar, aber leider hat sie über keinen dieser Punkte Kontrolle“, sagt Michael Clarke, der ehemalige Direktor von RUSI, einem unabhängigen Forschungsinder stitut, das sich mit nationalen und internationalen Sicherheitsfragen befasst. „Wir müssen aufhören, uns darüber Sorgen zu machen, ob wir unsere muslimischen Gemeinden verärgern, wenn wir ihnen sagen: Ihr habt ein Problem“, so Clarke.
Tatsächlich legte bereits 2016 eine Studie im Auftrag der Regierung nahe, dass ethnische Minderheiten, aber auch viele muslimische Gemeinden sozial ausgegrenzt und mangelhaft integriert seien. Die Politik habe oft aus Angst vor Rassismusbeschuldigungen umstrittene religiöse Praktiken, frauenfeindliches Verhalten sowie ein Vertreten von Werten, die den britischen widersprächen, ignoriert oder geduldet, hieß es. Gestern rief denn auch der höchste muslimische Polizeibeamte Mak Chisthy muslimische Gruppen dazu auf, die Wurzeln des Extremismus zu zerstören.
Dass es nun Großbritannien gleich drei Mal getroffen hat, überrascht den Sicherheitsexperten Michael Clarke nicht. „Hier hat sich seit Jahren eine Terrorismuswelle aufgebaut, wir wussten, dass es uns irgendwann treffen würde. Weil aber die Aufmerksamkeit auf anderen Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Belgien lag, hat es
Die Menschen werfen Tische und Stühle nach den Tätern
etwas gedauert, bis die Welle über das Königreich hereinbrach.“Tatsächlich setzten die Behörden bereits vor Jahren die Terrorwarnstufe auf die zweithöchste Stufe „ernsthaft“, nach der ein Anschlag hochwahrscheinlich ist. Doch Großbritannien sei für Terroristen „eine härtere Nuss als einige unserer kontinentalen Partner“, auch weil die Polizei und Geheimdienste besser seien, sagt Clarke. Man habe etwa doppelt so viele Beamte, die den E-Mail-Verkehr und die elektronische Kommunikation überwachen als in Frankreich. Im Vergleich zu Deutschland sogar fünf Mal so viele.
Während die Ermittlungen andauern, gab es am Sonntag im Osten der Hauptstadt mehrere Razzien. Die Polizei nahm zwölf Menschen im Stadtteil Barking fest, die verdächtigt werden, im Zusammenhang mit dem Angriff zu stehen.
Gestern Abend gaben die Ermittler Details über zwei der mutmaßlichen Täter bekannt. Bei dem einen handelt es sich um den 27-jährigen britischen Staatsbürger Khuram Shazad Butt aus dem Ostlondoner Stadtteil Barking. Der Mann stamme ursprünglich aus Pakistan, er sei verheiratet gewesen und habe Kinder gehabt. Der Polizei sei er zuvor bereits bekannt gewesen, Hinweise auf Anschlagspläne habe es aber nicht gegeben. Britischen Medien zufolge war Butt 2016 in einer TVDokumentation mit dem Titel „Die Dschihadisten von nebenan“zu sehen gewesen. Der zweite Attentäter sei ein Mann namens Rachid Redouane, 30. Er habe angegeben, aus Marokko oder Libyen zu stammen. Er lebte ebenfalls in Barking.
Dschihad im Ramadan Einer der Mörder stammt aus Pakistan, einer aus Marokko London Bridge und Borough Market: Die Anschlagsorte sind beliebte Touristenziele