Der fröhliche Anarcho
Konstantin Wecker predigt auch mit 70 noch den Widerstand und ist dabei selbst unwiderstehlich
Konstantin Weckers Hand liegt auf dem Flügel. Mit gesenktem Kopf steht er auf der Bühne und singt vom Leben. Von seinem Traum singt er, die Welt zu poetisieren. Nie mehr Seehofer, nie mehr von der Leyen, sondern nur noch Rilke und Brecht: Zum 70. Geburtstag, der erst einige Tage zurückliegt, schenkt sich der Münchner eine Jubiläumstournee, bei der der Liedermacher einerseits auch Rückschau hält, andererseits in wilder Entschlossenheit seine Sehnsucht nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft besingt, unterlegt von Beethovens „Ode an die Freude“. Wer sich auf sich selbst besinnt, ist marktwirtschaftlich nicht mehr zu gebrauchen, so Weckers Aufruf, das eigene Leben zu leben und authentisch zu sein. Ganz nebenbei lässt er beim ausgedehnten Abend im Söflinger Klosterhof auch seine ungeheure musikalische Bandbreite hören: von der zärtlichen Liebeserklärung an den verstorbenen Vater bis hin zum groovigen Blues. Das abendliche Zwitschern der Schwalben auf dem Gelände mischt sich melodisch stimmig wie einkomponiert mit den zarten Tönen.
Er ist auf der Suche nach einer Welt, die es so eigentlich nicht geben kann: Konstantin Wecker weiß um die Illusion, die er besingt – die einer Welt, in der niemand Macht hat, in der niemand einem anderen Menschen Böses will. Die Friedensbewegung, auf deren Kundgebungen der Pazifist auftrat – wo ist sie eigentlich in dieser Zeit, in der die Welt so voll Kriege ist? Georg Heyms Gedicht „Der Krieg“, 1911 geschrieben, hat Wecker eindrucksvoll vertont und ergänzt, und in „Was keiner wagt“, fordert er zur Skepsis am Mainstream auf: „Wo alle loben, habt Bedenken. Wo alle spotten, spottet nicht.“
Eine Menge Lebenserfahrung steht hinter diesen Texten und eine Menge musikalischer Erfahrung. Das zeigt sich an jenen Liedern, die selbst schon Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Am melancholischen „Der alte Kaiser“, Haile Selassie gewidmet, dem letzten Herrscher von Abessinien. Wie war das? Wecker ist 70 geworden? „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lange ich darauf gewartet habe! 50 Jahre!“, erzählt er. Denn während der ersten 20 Jahre Leben meinte der Mensch, dieses methusalemische Alter könnten höchstens Schildkröten erreichen. Und schließlich habe er, Konstantin Wecker, ja auch einiges dafür getan, jenes Alter nicht zu erreichen. Doch was soll´s – er ist 70, ein „alter Anarcho“geblieben, wie er sich selbst bezeichnet, und er hofft, dass jene Zeit überwunden ist, in der er Lieder schrieb, denen er selbst intellektuell noch nicht gewachsen war. Die Schliche, mit denen der Mensch sich selbst hintergeht, die zu kennen ist Konstantin Wecker inzwischen überzeugt – und erzählt von den Fotos seiner Laufbahn, derer er sich selbst schämt. Als er im bodenlangen Nerzmantel durch München spazierte zum Beispiel, als „Möchtegern-Macho“.
Charmant spielt Wecker mit dem Nonkonformismus; gereift, philosophisch und fast zärtlich singt er vom Scheitern, vom Versagen – und von der Liebe. Und von der Lebenswelt eines Kindes, das ganz am Anfang des Lebens steht. Alles noch mal von vorne? Ja, gerne würde er dieses ganze schrecklich schöne Leben noch einmal beginnen, in der Geborgenheit der Träume eines Fünfjährigen, die er so authentisch schildern kann. Dass er, der 70-Jährige, sich noch heute nach Lummerland träumen kann, nimmt man ihm ab. Ein Träumer will er sein, ein Narr, nicht zu greifen, nicht festzulegen.
Herbstliche Toskana-Liebe in Thymian und Wein, in Oliven und südlichen Winden weht den Zuhörer im Klosterhof fast schon abschiedlich an. Wunderschön poetisch ist die unvertonte Lyrik, die Wecker vorträgt. Das sind Worte, die eine Welt tragen könnten. Aber ohne den Trotz, ohne den Widerstand kommt auch die Lyrik nicht aus.
„Empört euch!“, singt Wecker in die Nacht hinaus. „Die Menschenwürde, hieß es, sei unantastbar. Jetzt steht sie unter Finanzierungsvorbehalt.“