Leitartikel
Wie wollen die demokratischen Parteien auf Dauer die Kontrolle über die Massenzuwanderung gewinnen? Darüber hätte man vor der Wahl gern mehr erfahren
Die Lage hat sich entspannt. Aber die Flüchtlingskrise ist allenfalls entschärft und wird Deutschland, das Sehnsuchtsziel Nummer eins, noch auf viele Jahre hinaus in Atem halten.
Die Bürger haben ein feines Gespür dafür, dass die von den Regierenden versprochene Kontrolle über die Massenzuwanderung einstweilen nur auf dem Papier steht. Nichts treibt die Deutschen folglich mehr um als die Frage, was da noch alles auf sie zukommen wird und wie es gelingen kann, die vor Bürgerkrieg, Verfolgung und Armut nach Deutschland geflüchteten Menschen bestmöglich zu integrieren und dafür zu sorgen, dass Aufnahmekapazitäten und Aufnahmebereitschaft des Landes nicht überstrapaziert werden. Der anhaltende Migrationsdruck – auch heuer werden mindestens 200 000 Menschen aus den Krisenregionen der islamischen Welt und Afrikas hier ankommen – ist das drängendste gesellschaftliche Problem. Das weitverbreitete Unbehagen über den rasanten Wandel der Bevölkerungsstruktur und die importierten Probleme ist mit Händen zu greifen und reicht bis tief in die an sich weltoffene, liberale Mitte der Gesellschaft hinein. Es ist keineswegs auf jene beschränkt, die sich in die Arme der mit nationalistischen Abschottungsparolen operierenden, teils rechtsradikalen AfD werfen. Viele empfinden die binnen kurzem erfolgte, ungesteuerte Zuwanderung von Millionen Menschen eben als „Zumutung“, wie es Präsident Steinmeier formuliert hat – verbunden mit der Sorge, dass der Sozialstaat die immensen Kosten nicht verkraften kann, der Wettbewerb um Jobs und bezahlbare Wohnungen eskaliert und die Eingliederung so vieler aus einem ganz anderen Kulturkreis stammender Menschen scheitern könnte.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der epochalen Bedeutung des Themas ist die Flüchtlingsfrage im Wahlkampf zu kurz gekommen. Jede der zweifelsfrei demokratischen Parteien ist dem offenen Diskurs um die Frage, wie sich die humanitären und rechtlichen Verpflichtungen in eine gute Balance mit der nötigen Begrenzung der Zuwanderung bringen lassen, letztlich ausgewichen. Einerseits aus der Furcht, der AfD Munition zu verschaffen. Andererseits aber auch aus einem Mangel an Konzepten. Weder die Union noch die SPD, unter deren Augen die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind, haben ein Zielbild von der Zukunft Deutschlands in Zeiten irregulärer Migration geboten. In der Union ist der Streit um die „Obergrenze“vertagt; die Kanzlerin ist froh, wenn sie mit einem blauen Auge davonkommt. Die in letzter Minute versuchte Absatzbewegung der SPD, die Merkels Kurs ja mitgetragen hat, ist zu durchsichtig, als dass sich damit nun noch punkten ließe.
Auf der Habenseite der Großen Koalition steht der mithilfe anderer Staaten erzwungene drastische Rückgang der Flüchtlingszahlen. Viele andere Aufgaben sind unerledigt: der Schutz der EU-Außengrenze, die Rückführung abgelehnter Asylbewerber, eine gemeinsame europäische Asylpolitik, der Aufbau von Aufnahmezentren außerhalb der EU, eine Verständigung darauf, wie viele Menschen das Land jährlich aufnehmen will. Alles zur Wiedervorlage nach der Wahl – mitsamt der massiven Hilfe für Afrika und der entscheidenden, zuletzt von der FDP präzisierten Frage, wie sich verhindern lässt, dass das Asylrecht als „Türoffner für illegale Zuwanderung benutzt wird“(Ex-Verfassungsrichter Papier). Der unterschiedliche Umgang mit Verfolgten, Kriegsflüchtlingen und Arbeitsmigranten ist so unausweichlich wie der Versuch, Entscheidungen über Asylanträge schon vor der Einreise zu treffen – anders ist die Steuerung der Zuwanderung nicht zu schaffen.
Kein Zielbild von der Zukunft Deutschlands