„Babylon“statt „Ti Amo“
Ein politischer Carpendale? Ja! Denn der hat nicht nur sein Lebenstief überwunden, sondern auch den Schlager – und war Trumps Nachbar
err Carpendale, niemand, der „Wenn nicht wir“hört, wird Sie jemals wieder einen Schlagersänger nennen.
Das freut mich wirklich sehr. Ich musste 71 Jahre alt werden, um solch ein Album zu machen.
Warum ist Ihnen die Abgrenzung vom Schlager eigentlich so wichtig?
Als Südafrikaner wuchs ich mit Elvis, den Beatles, den Rolling Stones auf. Ich kam über Umwege nach Deutschland und wollte in die Musikbranche. Damals, in den Siebzigern, war Schlager das Einzige, das lief. Also habe ich mitgemacht, auch wenn ich als Englisch sprechender Mensch immer eine etwas andere Vorstellung davon hatte, was gute Musik ist. Seit Ende der Achtziger habe ich mich Schritt für Schritt vom deutschen Schlager wegbewegt, und dieses Album ist das Endprodukt dieser Entwicklung.
Ausgerechnet jetzt boomt Schlager wieder. Warum?
Der alte Schlager ist viel Nostalgie, gepaart mit dem Verlangen nach Party. Es erinnert viele Leute an früher, und macht den Leuten einfach großen Spaß. Es sind musikalische Glückspillen, mit denen man für einen kurzen Moment die Probleme ausblendet. Letztlich entscheidet das Publikum selbst, was ihm guttut und was es am Ende hören will.
Finden Sie den Wunsch nach Eskapismus dennoch falsch?
Ich kann das sehr gut verstehen, dass den Menschen unsere Welt zu kompliziert und zu ernst ist. Die Leute wollen abgelenkt werden, sie wollen den Beat zum Mitklatschen. Balladen und nachdenkliche Lieder haben es in solch einem Umfeld schwer.
Im Lied „Babylon“singen Sie: „Wird diese Welt wie Babylon im Wahnsinn untergehen / Oder können wir das Ding noch drehen?“Was denken Sie?
Auf dem Weg, den wir im Moment gehen, werden wir gar nichts mehr drehen können. Es muss etwas passieren. Wir müssen wohl etwas wirklich Einschneidendes erleben, und ich hoffe nicht, dass es ein Krieg sein wird, um zu merken, dass es so nicht weitergeht. Natürlich ist es schwierig, alle Menschen zusammenzubringen, die Skala der Meinungen ist zwischen unterschiedlichen Ländern und auch innerhalb der meisten Länder sehr breit. Aber wir müssen unsere Fähigkeiten, unsere Entwicklung, unseren Wohlstand einsetzen, um voranzugehen.
„Sag mir wer / wenn nicht wir“, so geht der Refrain des Titelsongs.
Genau. Der Vorsprung, den wir haben in Ländern wie Deutschland, Österreich, Schweiz, den skandinavischen Ländern, den müssen wir einsetzen. Nehmen wir als Beispiel Homosexualität. In Skandinavien sind sie noch deutlich weiter, was Liberalität und Toleranz angeht, von diesen Gesellschaften können wir lernen. Deutschland muss noch toleranter werden. Ich bin froh, dass ich heute in einem Land lebe, in dem die Menschen heiraten können, wen sie wollen. Mir ist es scheißegal, wer sich liebt. Hauptsache, sie lieben sich. Trotzdem scheint die Mehrheit in unserer Gesellschaft eher auf Hass, Krawall und Gewalt eingestellt als auf Liebe. Mich beschäftigt das sehr.
Ein Bild, wie es gehen könnte, zeichnen Sie in „Füreinander da“.
Das ist die zweite Stufe von „Babylon“, einfach umzusetzen im alltäglichen Leben. Wir sind die Typen im Auto, die hupen und den Finger zeigen, die ungeduldig sind und egoistisch. Ich schließe mich da mit ein. Ich bin kein Gutmensch. Ich frage mich nur: Wie sind wir in diese Situation gekommen?
Das ist jetzt ein ziemlicher Schwenk, aber ich bin überzeugt: Ein großes Problem in unserer Gesellschaft ist das Geld. Es ist viel zu wichtig geworden, besonders bei reichen Menschen. Die Armen haben ja nichts. Ich würde es für einen richtigen Weg, zumindest für einen Anfang halten, wenn jeder im Monat 1000 Euro bekommt. Jeder Mensch, der geboren wird, hat ein Recht auf Essen und ein Dach über dem Kopf. Und wenn seine Lebensform Faulheit ist, dann soll er eben faul sein. Aber die Chance, etwas zu bekommen, womit ich etwas aufbauen kann, die ist wichtig. Viele Menschen haben überhaupt keine