Voller Fokus auf Freitag
So sehr er sich auch müht, Richard Freitag wird die Bürde des Top-Favoriten bei der Vierschanzentournee nicht los. Doch Bundestrainer Schuster hat noch andere auf der Rechnung
So höflich wie er sich zwei Tage vor Heiligabend per Videobotschaft in den Heimaturlaub verabschiedet hatte, so höflich kehrte Skispringer Richard Freitag gestern nach Oberstdorf zurück. Vieles ist gleich geblieben: sein Schnauzbart, sein Dauergrinsen im Gesicht, seine durchaus bewusst zur Schau gestellte Coolness. Anders ist diesmal nur: Im proppenvollen Saal des Oberstdorf Hauses hängt eine riesige Meute von Kameraleuten und Journalisten an seinen Lippen. Was wird er sagen zu seiner Favoritenrolle bei der heute (ab 16.30 Uhr, ARD) mit der Qualifikation beginnenden Vierschanzentournee? Lehnt er sich wenigstens ein klein wenig aus dem Fenster? Ist er es, der Sven Hannawald als letzten deutschen Gesamtsieger beerben kann? Der 26-jährige Freitag wählt als Eisbrecher zwischen ihm und den neugierigen Reportern eine höfliche Begrüßung. Mit „Hallo erst mal“mimt er den Kabarettisten Rüdiger Hoff- und wünscht artig „frohe Weihnachten nachträglich.“Erst dann gibt er verhalten Auskunft darüber, wie er die lange Pause über die Feiertage verbracht hat. Es gehe ihm nach wie vor gut und es fühle sich gut an, zum ersten Mal von seiner Wohnung zu Fuß hierher zu kommen – „bei so schönem Winterwetter könnte es keinen besseren Start für mich geben.“
Der Führende des Gesamtweltcups hat sich eines übers Fest bewahrt: tiefzustapeln und das Wort vom Tournee-Erfolg nicht ansatzweise in den Mund zu nehmen. Ob ihm die Oberstdorfer Schanze denn liege? „Äh, ich kann sie gut springen, kann aber auch einen richtigen Dreck zusammenspringen hier.“Ob er sich auch selbst als Favorit sehe? „Ja, ich bin in einer guten und stabilen Form, aber auch diese Tournee wird Überraschungen bringen.“Ob er großen Druck verspüre? „Nein, der Druck ist ja schon seit Jahren groß, weil es immer heißt, die Deutschen brauchen endlich wieder einen Gesamtsieger. Ich finde, wir ha- ben jetzt weniger Druck, weil wir auf einem besseren Level sind.“
Am Ende muss sich Freitag, der derzeit so spielerisch leicht durch die Luft segelt, aber ganz schön quälen, um sein Ziel für Oberstdorf in einen hölzernen Satz zu fassen: „Ich hoffe, einen guten Start bewerkstelligen zu können.“Ach ja, und einen Freudschen Versprecher leistete sich Freitag gestern auch noch: Er sei nicht so der Statist, sagte er und meinte stattdessen Statistiker, deshalb lasse er sich gerne auf Überraschungen ein und sei froh, dass er alles dafür getan habe, um gut in diese Tournee zu kommen. Nein, die Rolle des Statisten mögen bei dieser Tournee andere einnehmen, Freitag ganz bestimmt nicht.
Auch Bundestrainer Werner Schuster strotzte gestern vor Zuversicht. Schließlich stelle der DSV mit Freitag den Top-, mit Andreas Wellinger einen Mit- und mit Markus Eisenbichler auch noch einen Geheimfavoriten – „da sollten wir schon in der Lage sein, die Tournee positiv mitzugestalten.“Vom Gemann winnen-wollen oder -müssen redet auch Schuster wohlweislich nicht, schließlich ist die Gefahr groß, wie in den letzten Jahren leer auszugehen. Vielleicht auch deshalb hob der 48-jährige Österreicher auf die Frage eines Reporters nach der Leistungsexplosion von Freitag den Zeigefinger und mahnte, die Dinge nicht gleich wieder zerreden zu wollen. Das wolle doch gar niemand, erwiderte der Journalist, und Schuster endete damit: „Wir sollten alle einfach froh sein, dass es derzeit so gut läuft. Ich jedenfalls habe Vertrauen in mein Team.“
Auch im Lager der Österreicher und Norweger redeten gestern alle über den Favoriten Freitag. Der Weltcup-Dritte Daniel-André Tande, der im Vorjahr den Gesamtsieg herschenkte, weil er beim finalen Sprung in Bischofshofen seine Bindung nicht ordentlich zumachte, zog eine Parallele zu Freitag. Beide seien sie im Sommer von zu Hause ausgezogen, beide seien sie jetzt Favoriten. „Vielleicht gewinnt ja der, der am meisten Zeit für sich hat.“
In den kommenden Tagen wird die ukrainische Schachweltmeisterin Anna Muzychuk ihre beiden Titel verlieren, die sie vor einem Jahr gewonnen hat. Das liegt nicht daran, dass die 27-Jährige krank oder außer Form wäre. Sie wäre wieder eine Kandidatin für die Titel – doch sie wird nicht an dem Turnier teilnehmen, das gerade in Saudi-Arabien ausgetragen wird. Sie protestiert.
Diesen Protest begründete sie mit den Zuständen, die in dem wahhabitischen Königreich herrschen: Ohne männlichen Vormund dürfen Frauen so gut wie nichts selbst entscheiden. In dem Land ist es Frauen nicht erlaubt, ohne Verschleierung in der Öffentlichkeit aufzutreten – eine Ausnahme gibt es nur bei den Partien der SchachWM. Zu viel für Muzychuk. Sie schrieb: „Ich will nicht nach den Regeln von jemand anderem spielen, keine Abaya
tragen oder nicht alleine nach draußen gehen dürfen oder mich generell wie eine Kreatur zweiter Klasse fühlen.“Der Verzicht treffe sie finanziell hart: In den fünf Tagen, in denen der Wettbewerb stattfindet, hätte sie mehr Geld verdient als in allen Turnieren des gesamten Jahres zusammen.
Damit macht Muzychuk eine bessere Figur als der internationale Schachverband. Der schickt sich gerade an, bei den Beliebtheitswerten ähnlich desaströse Zustände zu erreichen wie das Internationale