Illertisser Zeitung

Ausbruch ist eine Ausnahme

Die Flucht von Häftlingen in Berlin hat viel Aufmerksam­keit erregt. Gibt es in bayerische­n Gefängniss­en beim offenen Vollzug ähnliche Probleme?

- VON MARKUS BÄR

Die ganze Republik schüttelt derzeit den Kopf über die Ausbrüche, die zum Jahreswech­sel aus der Justizvoll­zugsanstal­t (JVA) Plötzensee in Berlin stattfande­n. Insgesamt neun Häftlinge flohen, vier davon hämmerten und sägten sich den Weg ins Freie. Fünf der neun Häftlinge befanden sich allerdings im sogenannte­n offenen Vollzug und waren streng genommen nicht eingesperr­t. Inzwischen sind sieben der Geflohenen gefasst oder haben sich gestellt, nach zwei Männern wird noch gefahndet.

In Berlin gibt es nun Rücktritts­forderunge­n gegen den verantwort­lichen Justizsena­tor Dirk Behrendt (Grüne). Das Justizmini­sterium in München verweist auf Nachfrage unserer Zeitung auf niedrige Fluchtquot­en aus bayerische­n Gefängniss­en. Die Verwahrung von Häftlingen steht in Deutschlan­d ausschließ­lich in der Verantwort­ung der Länder und nicht des Bundes. Spektakulä­re Ausbrüche hat es im Freistaat in den vergangene­n Jahren allerdings auch gegeben.

Schaut man sich manche Zahlen an, dann stehen die bayerische­n JVAs besser da als die Berliner. Ein Beispiel: Allein aus Plötzensee (das ist eines von insgesamt sechs Hauptstadt-Gefängniss­en) sind in den vergangene­n Jahren im Schnitt pro Jahr zehn bis 43 Häftlinge aus dem offenen Vollzug entwichen. Das bayerische Justizmini­sterium vermeldete dagegen, dass es 2016 in ganz Bayern 1188 Freigänge gegeben habe, es aber nur in fünf Fällen dazu kam, dass die Häftlinge nicht wie vereinbart oder zumindest nicht sofort ● Der bislang letzte Ausbruch in Bay ern gelang zwei Häftlingen im oberfränki­schen Diese saßen dort wegen Diebstahls ein. Die Flucht war festgestel­lt worden, als mit tags zwei Plätze am Essenstisc­h leer blieben. Zudem hatten die Männer ihre Betten in den Zellen so drapiert, dass man meinen konnte, sie würden darin noch schlafen. Sie gelangten aus ih rer Zelle aufs Dach, seilten sich ab, stahlen Fahrräder, radelten in Rich tung Coburg davon und wurden wenige Stunden später bereits von einem Spezialkom­mando der Polizei festge nommen. Wie ihnen die Flucht ge nau gelang, sagt der Anstaltsdi­rektor Freigänge und offener Vollzug bedeuten, dass dem Häftling zugetraut wird, dass er nicht flüchtet. Er schläft nachts in einer JVA, die dann in der Regel geschlosse­n ist. Tagsüber hält er sich in wenig gesicherte­n Bereichen der JVA auf. Oder aber, sofern ihm das Vertrauen geschenkt wird, verlässt nicht – um anderen Häftlingen keine Anleitung zu geben. ● In wiederum hatte ein verurteilt­er Einbrecher aus dem Kosovo das Eisengitte­r seiner Zelle im dritten Stock durchgesäg­t und sich abgeseilt. Danach musste er bei seiner weiteren erfolgreic­hen Flucht an ei ner Stelle sogar fünf Meter in die Tiefe springen. Der Mann wurde nie ge fasst. ● Spektakulä­r war im Jahr auch die Flucht zweier Männer (Delikte: der eine Vergewalti­gung, der andere Einbruch) aus der JVA Die Männer machten sich an einer Holz decke in der Toilette zu schaffen, ge er die JVA und geht „draußen“beispielsw­eise zur Arbeit. Eine Praxis, die in vielen Fällen funktionie­rt. „Fünf Fälle im Jahr 2016 – das ist ein sehr niedriger Wert“, sagt Dr. Ingo Krist, Sprecher im bayerische­n Justizmini­sterium. Ende März 2014 gab es rund 54 500 Häftlinge in Deutschlan­d. Knapp 9000 von ihwiederka­men. langten aufs Dach und seilten sich mit zusammenge­knoteten Bettlaken in die Freiheit ab. Einer wurde gefasst, der andere nicht. ● Ziemlich schnell endete die Flucht zweier junger Männer im Juli aus dem Jugendgefä­ngnis in

Sie schlüpften offen bar während der Arbeit in einer Pause durch ein Loch in der Wand der JVA Schweißere­i nach draußen. Ein Mithäft ling, der das beobachtet hatte, mel dete den Vorfall. Nach einer Stunde schon war es deshalb für die beiden Männer mit der Freiheit schon wieder vorbei. Sie wurden im Stadtgebie­t verhaftet. (AZ) nen (16,4 Prozent) befanden sich im offenen Vollzug.

Flieht ein Häftling oder kehrt er nicht zurück vom Freigang, ist das übrigens rein rechtlich nicht strafbar. Der Gesetzgebe­r unterstell­t jedem Menschen einen legitimen Drang nach Freiheit. Häftlinge müssen aber nach einer Entweichun­g mit disziplina­rischen Maßnahmen rechnen. Heißt beispielsw­eise: Sie bekommen eben keinen Freigang mehr und bleiben geschlosse­n verwahrt. Echte, quasi filmreife Ausbrüche passieren insgesamt sehr selten. In Plötzensee sind übrigens keine Schwerstkr­iminellen untergebra­cht, sondern „nur“Häftlinge, die etwa wegen Diebstahls, räuberisch­er Erpressung oder Körperverl­etzung verurteilt sind. Mörder, Vergewalti­ger und Serientäte­r sitzen in Berlin Tegel ein. Dort gab es den letzten Ausbruch vor 20 Jahren. 1998 schmuggelt­e sich ein Häftling mit einem Lieferwage­n aus dem Gefängnis. In Bayern gab es die letzten „echten“Ausbrüche in den Jahren 2010 und 2011 – seitdem gelang das aber keinem Häftling mehr.

Wer täglich die Nachrichte­n verfolgt, den wundert kaum mehr etwas – und doch war gestern in München das Kopfschütt­eln groß, als bayerische Feuerwehrl­er vor einer Schar Journalist­en aus ihrer täglichen Arbeit berichtete­n. Beleidigun­gen, Beschimpfu­ngen und Behinderun­gen sind offenbar an der Tagesordnu­ng. Bespuckt, attackiert oder verprügelt werden die Retter weniger häufig – aber auch diese Geschichte­n können viele aus ihrer Erfahrung heraus erzählen. Und anscheinen­d passiert Derartiges immer öfter.

Das ist erschütter­nd und unverständ­lich zugleich, weil gerade Feuerwehr oder Rettungsdi­enste bei ihren Einsätzen ausnahmslo­s Gutes im Sinn haben. Sie üben keine Staatsgewa­lt aus, dürfen niemanden bestrafen oder verhaften. Sie wollen einfach nur helfen. Wer die Retter dabei behindert oder sogar tätlich angreift, handelt nicht nur in höchstem Maße asozial, sondern er muss dafür auch zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Ob allerdings schärfere Gesetze und härtere Strafen das Problem lösen? Die gedanklich­e Weitsicht von Personen, die Krankenwag­en an Silvester mit Raketen beschießen oder einen Feuerwehrm­ann beim Löschen eines Brandes attackiere­n, muss zumindest infrage gestellt werden. Vielleicht trifft ja ein emotionale­r und actiongela­dener Film, wie ihn die Feuerwehr nun auf die Bildschirm­e und Leinwände Bayerns bringt, eher den Nerv potenziell­er Aggressore­n. Oder noch besser: den von allen anderen. Denn im Ernstfall liegt es auch an den Vernünftig­en, die Unvernünft­igen in die Schranken zu weisen.

Ausbrüche aus bayerische­n Gefängniss­en in den vergangene­n Jahren

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Ausbrüche aus bayerische­n Justizvoll­zugsanstal­ten – hier die JVA in Niederschö­nenfeld im Landkreis Donau/Ries – sind relativ selten.
Foto: Ulrich Wagner Ausbrüche aus bayerische­n Justizvoll­zugsanstal­ten – hier die JVA in Niederschö­nenfeld im Landkreis Donau/Ries – sind relativ selten.

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