Ausbruch ist eine Ausnahme
Die Flucht von Häftlingen in Berlin hat viel Aufmerksamkeit erregt. Gibt es in bayerischen Gefängnissen beim offenen Vollzug ähnliche Probleme?
Die ganze Republik schüttelt derzeit den Kopf über die Ausbrüche, die zum Jahreswechsel aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee in Berlin stattfanden. Insgesamt neun Häftlinge flohen, vier davon hämmerten und sägten sich den Weg ins Freie. Fünf der neun Häftlinge befanden sich allerdings im sogenannten offenen Vollzug und waren streng genommen nicht eingesperrt. Inzwischen sind sieben der Geflohenen gefasst oder haben sich gestellt, nach zwei Männern wird noch gefahndet.
In Berlin gibt es nun Rücktrittsforderungen gegen den verantwortlichen Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). Das Justizministerium in München verweist auf Nachfrage unserer Zeitung auf niedrige Fluchtquoten aus bayerischen Gefängnissen. Die Verwahrung von Häftlingen steht in Deutschland ausschließlich in der Verantwortung der Länder und nicht des Bundes. Spektakuläre Ausbrüche hat es im Freistaat in den vergangenen Jahren allerdings auch gegeben.
Schaut man sich manche Zahlen an, dann stehen die bayerischen JVAs besser da als die Berliner. Ein Beispiel: Allein aus Plötzensee (das ist eines von insgesamt sechs Hauptstadt-Gefängnissen) sind in den vergangenen Jahren im Schnitt pro Jahr zehn bis 43 Häftlinge aus dem offenen Vollzug entwichen. Das bayerische Justizministerium vermeldete dagegen, dass es 2016 in ganz Bayern 1188 Freigänge gegeben habe, es aber nur in fünf Fällen dazu kam, dass die Häftlinge nicht wie vereinbart oder zumindest nicht sofort ● Der bislang letzte Ausbruch in Bay ern gelang zwei Häftlingen im oberfränkischen Diese saßen dort wegen Diebstahls ein. Die Flucht war festgestellt worden, als mit tags zwei Plätze am Essenstisch leer blieben. Zudem hatten die Männer ihre Betten in den Zellen so drapiert, dass man meinen konnte, sie würden darin noch schlafen. Sie gelangten aus ih rer Zelle aufs Dach, seilten sich ab, stahlen Fahrräder, radelten in Rich tung Coburg davon und wurden wenige Stunden später bereits von einem Spezialkommando der Polizei festge nommen. Wie ihnen die Flucht ge nau gelang, sagt der Anstaltsdirektor Freigänge und offener Vollzug bedeuten, dass dem Häftling zugetraut wird, dass er nicht flüchtet. Er schläft nachts in einer JVA, die dann in der Regel geschlossen ist. Tagsüber hält er sich in wenig gesicherten Bereichen der JVA auf. Oder aber, sofern ihm das Vertrauen geschenkt wird, verlässt nicht – um anderen Häftlingen keine Anleitung zu geben. ● In wiederum hatte ein verurteilter Einbrecher aus dem Kosovo das Eisengitter seiner Zelle im dritten Stock durchgesägt und sich abgeseilt. Danach musste er bei seiner weiteren erfolgreichen Flucht an ei ner Stelle sogar fünf Meter in die Tiefe springen. Der Mann wurde nie ge fasst. ● Spektakulär war im Jahr auch die Flucht zweier Männer (Delikte: der eine Vergewaltigung, der andere Einbruch) aus der JVA Die Männer machten sich an einer Holz decke in der Toilette zu schaffen, ge er die JVA und geht „draußen“beispielsweise zur Arbeit. Eine Praxis, die in vielen Fällen funktioniert. „Fünf Fälle im Jahr 2016 – das ist ein sehr niedriger Wert“, sagt Dr. Ingo Krist, Sprecher im bayerischen Justizministerium. Ende März 2014 gab es rund 54 500 Häftlinge in Deutschland. Knapp 9000 von ihwiederkamen. langten aufs Dach und seilten sich mit zusammengeknoteten Bettlaken in die Freiheit ab. Einer wurde gefasst, der andere nicht. ● Ziemlich schnell endete die Flucht zweier junger Männer im Juli aus dem Jugendgefängnis in
Sie schlüpften offen bar während der Arbeit in einer Pause durch ein Loch in der Wand der JVA Schweißerei nach draußen. Ein Mithäft ling, der das beobachtet hatte, mel dete den Vorfall. Nach einer Stunde schon war es deshalb für die beiden Männer mit der Freiheit schon wieder vorbei. Sie wurden im Stadtgebiet verhaftet. (AZ) nen (16,4 Prozent) befanden sich im offenen Vollzug.
Flieht ein Häftling oder kehrt er nicht zurück vom Freigang, ist das übrigens rein rechtlich nicht strafbar. Der Gesetzgeber unterstellt jedem Menschen einen legitimen Drang nach Freiheit. Häftlinge müssen aber nach einer Entweichung mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen. Heißt beispielsweise: Sie bekommen eben keinen Freigang mehr und bleiben geschlossen verwahrt. Echte, quasi filmreife Ausbrüche passieren insgesamt sehr selten. In Plötzensee sind übrigens keine Schwerstkriminellen untergebracht, sondern „nur“Häftlinge, die etwa wegen Diebstahls, räuberischer Erpressung oder Körperverletzung verurteilt sind. Mörder, Vergewaltiger und Serientäter sitzen in Berlin Tegel ein. Dort gab es den letzten Ausbruch vor 20 Jahren. 1998 schmuggelte sich ein Häftling mit einem Lieferwagen aus dem Gefängnis. In Bayern gab es die letzten „echten“Ausbrüche in den Jahren 2010 und 2011 – seitdem gelang das aber keinem Häftling mehr.
Wer täglich die Nachrichten verfolgt, den wundert kaum mehr etwas – und doch war gestern in München das Kopfschütteln groß, als bayerische Feuerwehrler vor einer Schar Journalisten aus ihrer täglichen Arbeit berichteten. Beleidigungen, Beschimpfungen und Behinderungen sind offenbar an der Tagesordnung. Bespuckt, attackiert oder verprügelt werden die Retter weniger häufig – aber auch diese Geschichten können viele aus ihrer Erfahrung heraus erzählen. Und anscheinend passiert Derartiges immer öfter.
Das ist erschütternd und unverständlich zugleich, weil gerade Feuerwehr oder Rettungsdienste bei ihren Einsätzen ausnahmslos Gutes im Sinn haben. Sie üben keine Staatsgewalt aus, dürfen niemanden bestrafen oder verhaften. Sie wollen einfach nur helfen. Wer die Retter dabei behindert oder sogar tätlich angreift, handelt nicht nur in höchstem Maße asozial, sondern er muss dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.
Ob allerdings schärfere Gesetze und härtere Strafen das Problem lösen? Die gedankliche Weitsicht von Personen, die Krankenwagen an Silvester mit Raketen beschießen oder einen Feuerwehrmann beim Löschen eines Brandes attackieren, muss zumindest infrage gestellt werden. Vielleicht trifft ja ein emotionaler und actiongeladener Film, wie ihn die Feuerwehr nun auf die Bildschirme und Leinwände Bayerns bringt, eher den Nerv potenzieller Aggressoren. Oder noch besser: den von allen anderen. Denn im Ernstfall liegt es auch an den Vernünftigen, die Unvernünftigen in die Schranken zu weisen.
Ausbrüche aus bayerischen Gefängnissen in den vergangenen Jahren