Tief religiös, aber ein erbitterter Gegner Erdogans?
Der muslimische Prediger Eliacik soll wegen seiner Regierungskritik hinter Gitter. Doch er lässt sich nicht einschüchtern
Eine Tote unbeerdigt auf der Straße liegen zu lassen, eine Frauenleiche nackt zur Schau zu stellen oder einen Leichnam durch die Straßen zu schleifen – all das verstoße nicht nur gegen das Kriegsrecht, sondern auch gegen den Islam und die türkischen Sitten, sagt der muslimische Prediger Ihsan Eliacik unserer Zeitung. Ursprünglich sagte er das auf der Veranstaltung eines islamischen Vereins in Istanbul vor drei Jahren, als diese Exzesse sich gerade im Grabenkrieg zwischen der PKK und der türkischen Armee im Südosten des Landes ereignet hatten – und wurde deshalb wegen Propaganda für eine Terrororganisation angeklagt. Jetzt wiederholte Eliacik seine Aussage per Twitter, nachdem die Staatsanwaltschaft letzte Woche siebeneinhalb Jahre Haft für ihn beantragt hatte. „Ich bleibe bei meiner Ansicht“, fügte Eliacik hinzu, „auch wenn ihr mich tausend Jahre einsperrt“.
Der Prediger musste in letzter Zeit häufiger vor Gericht, wo bereits sieben Strafverfahren gegen ihn laufen – wegen Beleidigung des Staatspräsidenten, wegen subversiver Äußerungen, Terrorpropaganda und ähnlicher Vorwürfe. Immerhin sitzt er bisher nicht in Untersuchungshaft wie so viele andere Regimekritiker – und er kann sich denken, warum. Weil es in der Türkei keine funktionierende Justiz mehr gebe, werde nach politischen Gesichtspunkten entschieden, wer wann abgeholt werde, sagt Eliacik im Interview. „Weil wir aus dem islamistischen Spektrum stammen, kommen sie wohl erst zuletzt zu uns.“
Ihsan Eliacik ist ein Islamist – aber er hat ganz andere Ansichten als Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP, die den türkischen Islamismus nach außen hin verkörpern. Ein moderner Islam müsse die modernen Werte der Aufklärung, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenrechte und Demokratie verinnerlichen, fordert Eliacik in seinen Vorträgen und Schriften. So lehnt er etwa das rituelle Schlachten von Tieren zum Opferfest ab, das seiner Ansicht nach nur eine Tradition ist und keine Vorschrift. „Gott befiehlt nicht, Blut zu vergießen“, betont Eliacik. „Das alljährliche Schlachten von Millionen Tieren ist meiner Ansicht nach nicht im Sinne des Islam.“
Eliacik versteht sich als kritischer Theologe. Nur durch Zweifel komme man zur Erkenntnis. Und Zweifeln sei genau das, was bei der AKP und dem staatlichen Religionsamt nicht erlaubt sei. „Ihr Verständnis vom islamischen Glauben ist reaktionär; sie vertreten einen unaufgeklärten Islam. Sie denken, sie leben den Islam, wenn sie wörtlich umsetzen, was vor vielen hundert Jahren geschrieben wurde.“
Damit könne die Regierung derzeit noch nicht so weit gehen, wie sie das eigentlich wolle, sagt Eliacik. „Wenn sie die Kopftuchpflicht einführen würden, dann gäbe es einen Aufstand – erst recht, wenn sie Dieben die Hand abhacken, die Vielehe erlauben und die Scharia einführen wollten.“Weil die Opposition in der Gesellschaft noch zu stark sei, begnüge sich die Regierung mit kleinen Schritten, etwa die Religion an den Schulen auszubauen oder den Muftis die Befugnis zu Trauungen zu geben. Das ändere aber nichts an der Absicht der AKP, irgendwann die Scharia einzuführen, glaubt der kritische Islamist: „Wenn konservative Islamisten die Macht bekommen, dann endet das auf Dauer zwangsläufig in einer religiösen Diktatur – zwangsläufig. Wenn sie nur genug Macht bekommen, dann werden sie dasselbe tun wie der IS.“
Starke Worte – die Regierung hört sie nicht gerne. Im Fernsehen hat Eliacik Auftrittsverbot. Mit Buchlesungen tingelt der Theologe durch das Land, doch mehrfach sind seine Veranstaltungen schon verboten oder verhindert worden.
Von Meinungs- oder Religionsfreiheit könne in der Türkei auch für Muslime keine Rede mehr sein, sagt Eliacik: „Wir haben in der Türkei heute ein totalitäres und autoritäres Regime.“Deshalb gebe es auch keine Religionsfreiheit: „Frei ist nur noch die Interpretation des Glaubens, die dem Regime nützt; alle anderen Auffassungen vom Glauben werden zum Verrat erklärt.“Dennoch steht Eliacik nicht alleine mit seinen Ansichten. Hunderttausende Anhänger folgen ihm in den sozialen Medien, wo er seine Ansichten verbreitet. Eine kleinere Schar von Getreuen findet sich wöchentlich zu seinen Seminaren ein, bei denen er Systemkritik predigt.
Die AKP sei der Versuch, den Kapitalismus religiös zu legitimieren, sagt Eliacik. Ihre Regierungszeit bezeichnet er als Ära des „rituell gewaschenen Kapitalismus“. Das Regime propagiere die Auffassung, dass Muslime reich werden, Fabriken besitzen und in Villen wohnen sollten. Eliacik: „Dabei ist es mit dem wahren Islam nicht vereinbar, mehr zu besitzen, als man braucht.“
„Ich bleibe bei meiner Ansicht – auch wenn ihr mich tausend Jahre einsperrt.“ Ihsan Eliacik