Eine Illertisserin reist in die Todeszone
Melanie Müller ist zum ehemaligen Atomkraftwerk Tschernobyl in die Ukraine gefahren. Nach dem Reaktorunglück 1986 wurde das Areal zum Sperrgebiet erklärt – heute entwickelt es sich zu einer Touristenattraktion
Ein Sonntagmorgen im April. Menschen unterschiedlicher Nationalitäten haben sich vor einem Schnellrestaurant am Hauptbahnhof der ukrainischen Hauptstadt Kiew versammelt, sie suchen auf den Listen des Tour-Veranstalters nach ihren Namen. Vor ihnen liegt eine aufregende Reise in das Sperrgebiet um den Unglücksreaktor. Wer dorthin will, muss sich viele Wochen vorher anmelden und Genehmigungen einholen, vergleichbar mit einem Visa-Antrag. Ich finde meinen Namen, lasse meinen Reisepass kontrollieren und werde dem „Alpha-Team“zugeteilt. Das besteht aus 15 Teilnehmern, einem Reiseleiter und dem Fahrer unseres Kleinbusses. Der Guide verteilt eine Ausgabe der Darin werden die Umstände der Katastrophe erklärt. Zudem finden sich Landkarten, auf denen die Tour skizziert ist. Vieles ist zu beachten.
So ist es in der Sperrzone wegen der immer noch vorhandenen Radioaktivität verboten, zu essen. Verkauft wird deshalb verständlicherweise auch nichts. Daher gibt es einen letzten Stopp an einer Tankstelle außerhalb von Kiew, bevor unser Bus anderthalb Stunden nördlich in Richtung der Grenze zu Weißrussland fährt. Im Dorf Dytyatky, etwa 23 Kilometer vor Tschernobyl, hält der Bus an einem Checkpoint, alle müssen aussteigen und durch eine Kontrolle der ukrainischen Armee.
Bei der Masse an Leuten, die hier anstehen, könnte man beinahe vergessen, was sich hier 1986 ereignet hat: Bei der Explosion des Atomreaktors waren große Mengen tödlicher Strahlung verteilt und weite Landstriche verseucht worden. Gefährliche Materie gelangte in die Atmosphäre und in mehrere europäischen Ländern. Bis heute sind die Folgen zu spüren. Um das ehemalige Atomkraftwerk herum ist Sperrgebiet. Der Reiseleiter erzählt, dass keine Touristen einreisen dürfen. Nur Fotografen und wissenschaftliche Mitarbeiter. Wie gut, dass ich eine große Kamera dabei habe.
Der erste Stopp bringt mich in ein Dorf am Rand der Zone. Bevor ich aussteigen darf, wird nochmals ausdrücklich an den Verhaltenskodex erinnert, an den sich jeder Besucher halten muss: Nichts anfassen, nichts mitnehmen, nicht sitzen oder knien, nur die Schuhsohlen dürfen den Boden berühren. Außerdem muss der Geigerzähler im Auge behalten werden. Noch zeigt er 0,15 Mikrosievert pro Stunde, einen Wert im Normalbereich, wie es heißt.
Der Zugang zum Ort ist schneebedeckt, die Besucher vor mir haben viele schmale Wege gebahnt. Trotzdem ist die Szenerie gespenstisch: Die Dächer der Häuser sind teilweise eingebrochen, vor einem Stall liegt neben einem verrosteten Kochtopf ein Lederschuh. Noch schweigt der Geigerzähler.
Die Reisegruppe, bestehend aus Chinesen, Deutschen, Engländern, Franzosen, Schweden und Tschechen, setzt die Fahrt fort, weiter in den Ort Tschornobyl, der außerhalb des Zehn-Kilometer-Sperrgürtels liegt. Wer verlassene Landschaften erwartet, liegt falsch. Mit dem Bus kommen wir an einer geschäftigen Autowerkstatt vorbei, die Post hat geöffnet und die Feuerwache ist besetzt. Vor manchen Fenstern hängt Wäsche, ein Hotel gibt es auch.
Dann geht es in die Zehn-Kilometer-Zone. Am Straßenrand stehen Schilder, die vor Radioaktivität warnen. Und dann taucht er am Horizont auf, der Sarkophag – die gigantische Stahlbeton-Hülle, die um den havarierten Reaktor gebaut wurde. Zunächst steht der Besuch eines Kindergartens an. Kaum habe ich den Bus verlassen, gibt der Geigerzähler einen schrillen Piep-Ton von sich. Der Reiseleiter erklärt, dass nur ein kurzer Stopp geplant ist. Im Gebäude liegen Spielsachen herum und auf den Tafeln ist noch Schrift zu entziffern. Das Piepen mahnt zur Eile, es geht zurück zum Bus und weiter in Richtung Kernkraftwerk. Begleitet vom synchronen Signal aller Geigerzähler.
Mittags kommen wir auf dem Parkplatz vor der Kantine des Atomkraftwerks an. Das Piepen hört auf. Bevor wir die Kantine betreten dürfen, müssen sich alle einer Strahlungskontrolle unterziehen. Ich stelle mich in die seltsam anmutende Konstruktion und hoffe das Beste. Nach einem kurzen Moment öffnet sich die Schranke und ich kann passieren. Die Kantine, ganz in Weiß, wirkt steril. Große Auswahl gibt es nicht. Drei Salate, bereits portioniert, Kartoffelsuppe, Gulasch mit Reis und zum Nachtisch eine Zimtschnecke. Das alles komme von außerhalb der Sperrzone, wird versichert. Ohne dass ich danach gefragt hätte.
Nach der Mittagspause fährt der Bus an den Reaktorblöcken entlang, direkt zum gewaltigen Sarkophag. 300 Meter Abstand habe ich noch, der Geigerzähler zeigt einen Wert von 0,96 Mikrosievert pro Stunde. Der Anblick des beeindruckenden Komplexes lässt für einen Moment alle Bedenken schwinden. Auch dieser Stopp ist sehr kurz. Die Tour geht weiter durch den Red Forrest, den roten Wald, der seine Farbe einst durch den radioaktiven Niederschlag bekam. Ziel ist die Ortschaft Prypjat. Dort lebten einmal fast 50000 Menschen, die meisten arbeiteten im Atomkraftwerk. Heute ist Prypjat eine Geisterstadt. Viele Gebäude sind einsturzgefährdet. Unser Spaziergang führt über sichere weil dekontaminierte Wege zwischen den Gebäuden hindurch. Außerhalb dieser Route ist es gefährlich, zum Beispiel im ehemaligen Krankenhaus. Dort liegen noch immer die verstrahlten Uniformen der Feuerwehrleute von den Einsätzen im Keller. Die Strahlung macht das Betreten unmöglich. Über das Hotel am Hauptplatz kommen wir zum Vergnügungspark, welcher nie eröffnet wurde. Riesenrad, Karussell und Schiffschaukel stehen hier als stille Zeugen der Katastrophe.
Die Szenerie ist beängstigend. Aber auch faszinierend. Wir steigen auf das Dach eines Hochhauses. 18 Stockwerke und zwei metallene Leitern später habe ich einen Panoramablick. Auf dem Weg nach unten fällt mir auf, dass die AluminiumFensterrahmen und Treppengeländer fehlen. Geplündert.
Auf der Rückfahrt eine Schrecksekunde: Der Geigerzähler zeigt kurz einen hohen Wert von 5,75 Mikrosievert. Mir wird klar, warum es der Fahrer eilig hat. An den Checkpoints der Zehn- und der 30-Kilometer-Zone gibt es Strahlungskontrollen. Keine Auffälligkeiten: Ich darf das Sperrgebiet verlassen. Im Bus wird kaum gesprochen, jeder muss das Erlebte verarbeiten. Ich bin voller Ehrfurcht für diesen Ort. Auch wenn bereits überall die Spuren der Besucher zu sehen sind. Kein Zweifel: Tschernobyl wird zur Touristenattraktion.
Kurz vor der Ankunft in Kiew wird mein Geigerzähler ausgewertet. Über den Tag verteilt, habe ich insgesamt zwei Mikrosievert an Strahlung abbekommen. Das entspreche der Menge eines Flugs von Kiew nach München und sei unbedenklich, sagt man. Das hatte ich nach meinen Recherchen vor der Reise auch nicht anders erwartet: Ich mag abenteuerlustig sein, aber lebensmüde sicher nicht.