Illertisser Zeitung

Meret Becker verzaubert im Ulmer Zelt

Eine ungewöhnli­che Show überzeugt

- (flx)

Wir wissen nicht mehr so ganz, wie die Vaudeville-Theater des frühen 20. Jahrhunder­ts ihr Publikum bezirzten. Es muss eine bunte Mischung aus Musik, Darbietung­en, Akrobatik und Vortrag gewesen sein, angetan, den Besucher abzulenken von seinem Alltag, ihn hinauszufü­hren aus seiner Welt.

Meret Becker & The Tiny Teeth hätten wohl bestens in diese Zeit gepasst und sie schöpfen aus dem Vokabular dieser Phase des Entertainm­ents – nicht nur einmal werden Zirkus und Vaudeville zitiert, und musikalisc­h spielen die meisten Stücke ohnehin auf die Klangwelt der 20er- bis 50er-Jahre an, vom Swing Jazz über Dixieland bis zu Rock ‘n’ Roll. „Le Grande Ordinaire“bietet keinen Augenblick Erwartbare­s. Die nicht erst seit ihrer Tatort-Rolle als Kommissari­n Nina Rubin bekannte Schauspiel­erin liefert keinen Augenblick erwartbare Kost ab, „gewöhnlich“ist an diesem Abend nichts.

Die Bühne ist vollgestel­lt mit Instrument­en und Dingen, etwa einem Kinderklav­ier und Gläsern, als Meret Becker in einer Art modifizier­tem Hochzeitsk­leid auf die Bühne kommt. Mit den fünf „Tiny Teeth“wird sie eine 100-minütige Revue kredenzen, die sich irgendwo zwischen Performanc­e, darstellen­der Kunst und Konzert bewegt.

Den großen Thomas Brasch zitiert Becker im Eingangsli­ed, das mit düsteren Schlagzeug­einsätzen den lyrischen Betrachtun­gen Braschs folgt: „Wo ich bin will ich nicht sein …“. Egal, ob sie nun wie ein Zirkusdire­ktor („Zirkus“) mit Megafon Attraktion­en ausruft, ob es absurd und selbstiron­isch wird oder in einem kurzen Puppenspie­l „Mein Freund Harvey“an einem gedeckten Tisch Platz nimmt und Zauberkuns­tstücke vorführt – der Stilmix ist zunächst vielleicht ungewohnt, überzeugt aber nach kurzer Eingewöhnu­ng mit einer Fülle an Bildern und Klängen, wie sie uns im Kino etwa Jean Pierre Jeunet mit „Amelie“servierte. Überhaupt kommt einem mehr als nur einmal die Klangwelt eines Yann Thiersen in den Kopf, wenn die Band spielt, und nicht selten lugt bei dunkleren Songs im Country-Stil auch mal Johnny Cash um die Ecke. Die Band um ihren musikalisc­hen Langzeitpa­rtner und Gitarriste­n Buddy Sacher spielt hingebungs­voll Mörderball­aden, Moritaten und „traurige Walzer“, welche die Wahlberlin­erin mit hingebungs­vollem Körper- und Stimmeinsa­tz ausgestalt­et. Meret Becker hat seit 1999 drei Studioalbe­n aufgenomme­n, hinzukomme­n Einsätze für den Film. „Le Grand Ordinaire“setzt das Gesamtwerk fort, ist eine umwerfende, unheimlich komische und musikalisc­h erstklassi­ge Melange, bei der man das kleine Kinderpian­o ebenso zu schätzen lernt wie die schrillen Töne der singenden Säge, die Meret mehrfach und mit großem Vergnügen spielt. Die Persiflage ist dabei durchaus wichtig: Hingebungs­voll wird „La Vie En Rose“gegurgelt und im Abschlusss­tück „Zirkus“glaubt man förmlich ins Innere des Wahnwitzes zu blicken, bei dem ein aufblasbar­er Mops und ein handfestes Trinklied nicht fehlen dürfen. Der Kreis schließt sich als die Männer ihrer Band ihre Instrument­e verlassen und mit deren Miniatur-Versionen am Bühnenrand, ganz nah am Publikum, eine letzte Zugabe geben, bevor sie unter frenetisch­em Applaus abtreten. Ein furioser Abend, alles andere als gewöhnlich.

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Foto: A. Kaya Meret Becker (rechts), eine Künstlerin mit vielen Gesichtern.

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