Die Schönheit des Kanaldeckels
Alltagsästhetik Der Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani spürt in seinem Buch „Bedeutsame Belanglosigkeiten“den kleinen, aber prägenden Dingen im Stadtraum nach
Herr Lampugnani, bei Kanaldeckeln geraten Sie förmlich ins Schwärmen. Was ist daran so reizvoll?
Vittorio Magnago Lampugnani: Es gibt mehrere Ebenen, die Schachtdeckel für mich faszinierend machen. Zunächst: Sie können ausgesprochen schöne, liebevoll gestaltete Objekte sein, aus Gusseisen, Stahl, Zement – es gibt ganz verschiedene Arten. Und sie erzählen kleine Geschichten von ihrer Stadt. In Rom sehen Sie häufig die Wölfin, daneben steht „SPQR“, also Senatus Populusque Romanus, ein aufschlussreicher, selbstbewusster Bezug zur Antike. Die meisten Städte zeigen ihre Stadtwappen oder eigene Symbole. In München ist es das Münchner Kindl, in Augsburg die Zirbelnuss. In die Kanaldeckel der indischen Stadt Chandigarh ist hingegen der stilisierte Stadtplan von Le Corbusier eingegossen, eine großartige Hommage an den Meister.
Nimmt dieser Hang zur besonderen Gestaltung ab?
Lampugnani: Nicht unbedingt. Ich war kürzlich in Berlin, da gibt es recht neue Schachtdeckel, auf denen einige Sehenswürdigkeiten der Stadt abgebildet sind. Man schenkt diesen Objekten, auf die man im Grunde nur mit den Füßen tritt oder über die man fährt, weiterhin Beachtung. Immerhin bilden Kanaldeckel und Ablaufgitter die dünne Membran, die zwischen der luftigen, eleganten Stadt und ihrer geheimnisvollen, düsteren Unterwelt vermittelt. Denken Sie an den Film „Der dritte Mann“und an die Verfolgungsjagd durch die Wiener Kanalisation. Der Bösewicht Harry Lime alias Orson Welles tritt durch eine Litfaßsäule, auch eine bedeutsame Belanglosigkeit, in das unterirdische Labyrinth und kann deshalb nicht entkommen, weil er ein schweres Eisengitter, das ihm den Weg aus einem Schacht auf die Straße versperrt, nicht hochhieven kann.
Gerade im Kino scheinen die „bedeutsamen Belanglosigkeiten“wichtige Rollen zu spielen.
Lampugnani: Ja, natürlich. In Walter Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ist die Litfaßsäule die Metapher des Wandels der Metropole, aber auch ganz praktisch das Versteck der Filmkamera. In Hitchcocks „Vögel“sucht Tippi Hedren in einer Telefonzelle Zuflucht vor dem mordlustigen Gefieder. „Frühstück bei Tiffany“beginnt mit einem Schaufenster, vor dem Holly Golightly, hinreißend von Audrey Hepburn gespielt, Kaffee und Croissant zu sich nimmt. Aber auch in der Fotografie und in der Malerei nehmen die kleinen Objekte des Stadtraums eine wichtige Rolle ein: etwa beim Fotografen Eugène Atget und bei Camille Pissarro, der die Pariser Boulevards mit ihren
Bäumen, Baumscheiben, Laternen, Kiosken und Reklamesäulen malt. Und in der Literatur: bei Charles Baudelaire zum Beispiel.
Sie haben auch die Metro-Eingänge in Paris und die Wiener Stadtbahn-Pavillons von Otto Wagner unter die „Belanglosigkeiten“eingereiht. Ist das nicht reichlich untertrieben? Lampugnani: Ja und nein. Natürlich sind das richtige kleine Architekturen, die mit hohem Anspruch und Können gestaltet wurden. Aber sie sind auch pragmatische Objekte, Zugänge zu einem technischen Massenverkehrsmittel, von denen explizit verlangt wurde, dass sie im Stadtraum nicht aufdringlich auftreten sollten. Poller, Bordsteinkanten und
Bodenbeläge sind bereits von Natur aus weniger auffällig. Aber auch sie können eine starke visuelle Präsenz und ästhetische Qualität entwickeln. Und alle erzählen sie anschaulich von der Geschichte des Lebens in der Stadt und von den Ambitionen ihrer Bürger oder ihrer Herrscher.
Die öffentlichen Toiletten glichen früher manchmal Palästen.
Lampugnani: Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben. Dabei müssen die modernen Menschen auf der Straße nicht nur laufen, sich ausruhen, trinken und essen, sondern manchmal eben auch ihre Notdurft verrichten. Toiletten sind deshalb eine durchaus wichtige Institution. Daraus hatten sich im frühen 20. Jahrhundert mancherorts luxuriöse Orte der Hygiene entwickelt, wo man sich frisch machen konnte, wo es Duschen gab, manchmal sogar einen Friseur und Maniküre. Solche Wellnessorte in der Stadt würde man sich heute noch wünschen.
Waren Toiletten nicht auch kommunikative Orte?
Lampugnani: Sicher. In der Antike waren städtische Toiletten etwas Selbstverständliches, man saß überdacht, aber an der frischen Luft, hatte fließendes Wasser. Die römischen Latrinen waren Orte der Hygiene, der Geselligkeit und auch eines gewissen Luxus – man musste in der Regel Eintritt zahlen, sie wurden also von der Mittelschicht benutzt, die sich das leisten konnte. Und die dort Konversation trieb, zuweilen auch Politik und Geschäfte machte.
Was sagen Möbel wie Parkbänke aus? In U-Bahnhöfen gibt es ja kaum noch zusammenhängende Bänke. Lampugnani: Mit diesen kleinen Dingen wurde und wird auch Sozialpolitik gemacht, und gerade die Bänke sind ein gutes Demonstrationsobjekt. Es gibt extreme Beispiele: Im Nationalsozialismus durften sich Juden nur auf bestimmte Bänke setzen; sie wurden auf diese Weise diffamiert. In Südafrika gab es Apartheidsbänke – entweder für Schwarze oder für Weiße. Heute möchte man die randständige Bevölkerung möglichst fernhalten, also die Obdachlosen. Die Tendenz, immer weniger Bänke in den Städten zuzulassen, und auch nur solche, auf denen man nicht schlafen kann, weil sie in der Mitte Bügel aufweisen, zeugt nicht von Humanität.
Wie individuell, wie privat darf der Stadtraum sein?
Lampugnani: Überhaupt nicht! Der Stadtraum ist kein Ort der Individualität. Der Stadtraum gehört der Öffentlichkeit und muss auch öffentlichen Charakter haben. Selbst die Toiletten und die Telefonhäuschen müssen, wenngleich geschützt, öffentlich verfügbar sein.
Beobachten Sie nicht auch die Tendenz, durch Mobiliar kleine Rückzugsorte auf Plätzen zu schaffen? Lampugnani: Die Tendenz, Plätze und Straßen wie Wohnzimmer zu möblieren und von den jeweiligen Etablissements entsprechend vereinnahmen zu lassen, ist unübersehbar. Aber sie ist für den öffentlichen Raum verheerend. Ich habe nichts gegen Außenbestuhlungen von Cafés und Restaurants, wenn Platz vorhanden ist. Die Stadt ist ein Lebensort, aber keine Lounge.
Dahinter steht meistens wirtschaftliche Potenz. Kann man dagegen etwas tun? Lampugnani: Selbstverständlich kann und muss man dagegen etwas tun. Der öffentliche Raum gehört den Bürgerinnen und den Bürgern. Er darf nicht ausverkauft werden.
Wie orientieren Sie sich denn in einer Stadt?
Lampugnani: Wie wir alle durch Straßenschilder und Hausnummern, durch Monumente und markante Gebäude. Aber, und auch das tun wir alle wenngleich wohl meistens unbewusst, genauso durch die kleinen Dinge im Stadtraum: Kioske, Haltestellen, Telefonzellen, Laternen, Uhren, Poller, Reklamesäulen, Schaufenster, Straßenpflaster, Bürgersteige. Alle diese Dinge sind meistens prägnant. Weil sie den Charakter und die Stimmung der Stadt prägen.
Mittlerweile hängen aber viele am Smartphone.
Lampugnani: Dass man die eigene Orientierung Google Maps überlässt, ist ein neues Phänomen. Ich meine, es wird die direkte Anschauung nicht ersetzen. Wir werden lernen, mit dem Smartphone umzugehen und dennoch die Stadt, die physische Stadt, mit unseren Sinnen zu erkunden. Es wird Zeit brauchen. Wir haben immer noch nicht gelernt, im Freien zu telefonieren. Doch wir machen Fortschritte. Immerhin ist das mobile Telefon kein Prestigeobjekt mehr, das man im Restaurant sofort neben seinen Teller legt, um es zu zeigen.
„Toiletten sind eine durchaus wichtige Institution“
Wie verändert sich die Stadt – auch mit ihren „Belanglosigkeiten“– durch die Digitalisierung?
Lampugnani: Wir sind uns alle noch nicht im Klaren, was die Präsenz der digitalen Medien in der Stadt wirklich bedeutet. Ich finde es praktisch, zu erfahren, wann die nächste Tram kommt, aber die Anzeigen könnten ansprechender gestaltet und besser ins Stadtbild integriert sein. Oder denken Sie an die Reklamebildschirme, die überall herumstehen und oft unnötig ablenken. Das ist momentan alles sehr additiv und überkrustet wild die historische Stadt. Es ist eine aktuelle stadtarchitektonische Aufgabe, solche Dinge vernünftig in ein Stadtbild zu integrieren. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Lichtwerbung aufkam, empfand man sie als unerträglich, weil sie zufällig und chaotisch eingesetzt wurde. Nach und nach ist sie dann in eine gewisse Ordnung gekommen.
Meinen Sie, dass mehr Regulierung nötig ist?
Lampugnani: Ja. Regulierung, intelligente Regulierung halte ich für notwendig und wichtig. Als etwa hier in Mailand vor dem Dom die Lichtreklamen abmontiert wurden, hat sich der Platz völlig verändert. Ich meine, entschieden zum Guten. Dennoch möchte ich nicht dafür plädieren, dass am Piccadilly Circus oder am Times Square die Lichtwerbung abgeschafft wird.
Interview: Christa Sigg
Vittorio Magnago Lampugnani