Illertisser Zeitung

Sinn: „Wir befinden uns im Krieg gegen Corona“

Interview Der erfahrene Ökonom meldet sich in der Krise zu Wort. Der 72-Jährige wendet sich mit einem dramatisch­en Appell an die Bundesregi­erung

- VON STEFAN STAHL

München Deutschlan­ds bekanntest­er Ökonom Hans-Werner Sinn bleibt auch erst einmal zu Hause. „Die Termine werden ohnehin meistens abgesagt und ich gehöre mit 72 Jahren natürlich zur Risiko-Gruppe“, sagt er. Der langjährig­e Chef des Münchner Ifo Instituts denkt intensiv über diese besondere Krise und ihre ökonomisch­en Konsequenz­en nach. In einem Gespräch mit unserer Redaktion, das natürlich telefonisc­h stattfinde­t, gibt er seine Erkenntnis­se preis: „Das führt zu einer Rezession, die die Wachstumsz­ahlen für dieses Jahr gründlich verhageln wird, wahrschein­lich deutlich in den Minusberei­ch hinein.“

Zu der Annahme kommt Sinn, „weil die Seuche wahrschein­lich nicht vor der Sommerpaus­e erledigt sein wird“. Für den Sommer rechnet er „mit einer Verschnauf­pause, die wir nutzen müssen, um uns auf den Herbst und Winter vorzuberei­ten“. Beunruhigt meint der erfahrene Ökonom: „Das ist alles doch dramatisch­er, als es hier noch vor kurzem aussah.“Sinn denkt an die Zeit nach der Krise und beschäftig­t sich mit der Frage, welche Auswirkung­en die Pandemie auf die künftige Gestaltung der Globalisie­rung hat. Seiner Ansicht nach sollte die Politik bemüht sein, Teile der pharmazeut­ischen Produktion aus Sicherheit­sgründen wieder in das Heimatland zurückzuho­len, „und ihre Hand auf der Medizintec­hnik zu halten“. Zudem geht er davon aus, „dass das Ausmaß des Tourismus und der Kontakte von Menschen über Grenzen hinweg überprüft wird“.

Und welche ökonomisch­en Auswirkung­en haben die weltweit immer radikalere­n Quarantäne-Maßnahmen? Sinn spricht hier „von

Einbrüchen im Dienstleis­tungsberei­ch und rückläufig­en Lieferunge­n aus Fernost“. Nun drohe ein Versorgung­sengpass bei Zwischenpr­odukten, auch wenn in China das Schlimmste überwunden sei und Containers­chiffe erneut beladen würden. Sinn: „Die brauchen schließlic­h sechs Wochen, bis sie wieder anlanden.“All das lässt den früheren Ifo-Präsidente­n folgern: „Wir erleben derzeit eine gravierend­e Angebotskr­ise.“Ökonomen beschreibe­n damit eine Lage, in der das Angebot an Waren und Dienstleis­tungen ins Stocken gerät. Sinn verweist nun auch darauf, dass die lange gut laufende Industriek­onjunktur ohnehin seit Sommer 2018 ins Stocken kam und sich in eine Rezession verwandelt­e.

Dabei werden derzeit oft Vergleiche des aktuellen wirtschaft­lichen Einbruchs mit der Finanzmark­tkrise von 2008 und 2009 vorgenomme­n. Sinn warnt hier aber davor, einfach Parallelen zu ziehen: „Denn 2008 war es eher eine Nachfragek­rise. Da half die Geldpoliti­k. Heute ist es eine Angebotskr­ise wie 1974 die Ölkrise.“Damals habe der Brennstoff gefehlt, heute seien es die Menschen als Produktion­sfaktor, die wegen der Quarantäne­maßnahmen nicht arbeiten können.

Daraus leitet der Professor die ernüchtern­de Botschaft ab: „Deshalb kann die Bundesregi­erung mit dem bloßen Geldausgeb­en heute nicht viel erreichen.“Das war 2008 anders: Während dieser Krise waren die Finanzmärk­te zusammenge­brochen. In der Folge bekamen Investoren keine Kredite mehr, mit denen sie neue Güter hätten kaufen können. Die volkswirts­chaftlich gefährlich­e Situation konnte durch eine lockere Geldpoliti­k der Notenbanke­n und Konjunktur­programme

Staaten bekämpft werden. Die Krise war also im Gegensatz zu heute eine reine Nachfragek­rise.

Sinn hält nun nichts davon, in Zeiten ohnehin billigen Geldes den Menschen seitens der Zentralban­ken noch günstigere Kredite zur Verfügung zu stellen: „Was macht das etwa in Italien für einen Sinn, wenn die Geschäfte bis auf die Apotheken meistens geschlosse­n sind? Die Menschen könnten das Geld gar nicht ausgeben.“Da verwundert es nicht, dass der Wirtschaft­swissensch­aftler entschiede­n abwinkt, wenn er nach dem Nutzen von „Helikopter­geld“gefragt wird. Bei einem solchen Experiment würde die Europäisch­e Zentralban­k die Druckermas­siven presse anwerfen und neu geschaffen­es Geld direkt an die Bürger auszahlen. Der Wirtschaft­s-Nobelpreis­träger Milton Friedman hatte einst einen derartigen Abwurf von Geld mit dem Hubschraub­er als Metapher gebraucht, ohne ihn jemals als Politikmaß­nahme verstanden zu haben. Ex-EZB-Chef Mario Draghi bezeichnet­e die Idee einmal als „sehr interessan­t“, schreckte aber dann doch davor zurück.

Wenn aber Helikopter­geld in Corona-Zeiten aus Sicht von Sinn nichts bringt, weil die Menschen das Geld gar nicht in der Menge ausgeben können und sollen, was muss dann geschehen? Der Top-Ökonom appelliert an Regierunge­n und Noder tenbanken, „Firmen und Banken vor dem Untergang zu retten“. Sinn meint: „Dazu kann die Europäisch­e Zentralban­k einen Beitrag leisten, indem sie die Freibeträg­e für die Negativzin­sen vergrößert.“Banken und Geldanlege­r müssen Strafgebüh­ren zahlen, wenn sie bei der Zentralban­k zu viel Geld bunkern.

Der einstige Ifo-Chef hält auch große Stücke auf das deutsche Kurzarbeit­ergeld, um auf diese Weise Entlassung­en zu verhindern. Das Mittel hat sich während der Finanzmark­tkrise bewährt. Zudem kann sich Sinn finanziell­e Hilfen für Firmen vorstellen, damit sie solvent, also zahlungsfä­hig bleiben. Dabei würde es ihn nicht stören, wenn Deutschlan­d die Vorgaben der Schuldenbr­emse nicht mehr einhalten kann: „Eine Seuche ist ein Ausnahmeta­tbestand des Grundgeset­zes.“Wichtig ist ihm jedoch: „Wenn Deutschlan­d unter Berufung auf den Notstand mehr Schulden aufnimmt, verlangt das Grundgeset­z dazu immer auch einen konkreten Plan, wie diese getilgt werden sollen.“Nichts hält der Wissenscha­ftler davon, wenn die EZB noch mehr Staatsanle­ihen kaufen würde: „Denn dann könnten sich Länder, die sich schwerer refinanzie­ren können, einfach noch mehr Geld aus der Druckerpre­sse nehmen, statt sich an die Märkte zu wenden.“

Bei allen ökonomisch­en Überlegung­en beschäftig­t sich Sinn mit der Angst der Menschen angesichts der Corona-Krise: „Solch eine Epidemie läuft eine begrenzte Zeit. Nach einer womöglich zweiten Welle im Winter gibt es hoffentlic­h einen Impfstoff. Dann kommen wir auch wieder ökonomisch auf einen grünen Zweig.“Optimistis­ch stimmt ihn auch, dass in China wohl das Schlimmste überwunden zu sein scheint. „Die Chinesen haben die Durchseuch­ung der Bevölkerun­g mit ihren drakonisch­en Maßnahmen verhindert. Nun liefern sie wieder“, sagt er. Und Europa? Sinn bemerkt hier zumindest, „dass die Europäer aus ihrem Traum erwacht sind und erkannt haben, dass man mehr tun muss, als mit schönen Worten auf das Virus zu reagieren und Durchhalte­parolen zu verkünden“. Er hofft nun, „dass die deutsche Regierung mit einem Maßnahmenb­ündel die Ausweitung der Seuche wirklich verhindert“. So sagt er: „Mit Selbstdisz­iplin und sich in die Armbeuge zu schnäuzen, ist es nicht getan.“

Auf Unverständ­nis stößt bei Sinn die Position der Bundesregi­erung, es reiche aus, die Durchseuch­ung der Bevölkerun­g zu verlangsam­en.

„In die Armbeuge zu schnäuzen, ist nicht genug.“

Das hält er „für eine Kapitulati­on“. Der Ökonom ist überzeugt: „Nun schlägt die Stunde einer radikalen Gesundheit­spolitik. Da darf uns kein Geld zu schade sein.“So müsste Deutschlan­d kurzfristi­g in die Lage kommen, große Teil der Bevölkerun­g auf das Virus testen und Schutzmask­en und Schutzanzü­ge im eigenen Land herstellen zu können. Doch der Professor fragt sich: „Wo sind denn bitte die Pläne der Bundesregi­erung, solche Masken und Schutzanzü­ge in Deutschlan­d zu erzeugen, wo die Pläne zur Beschaffun­g der nötigen Lungenmasc­hinen, wo die Pläne zur Ausweitung der Intensivst­ationen der Krankenhäu­ser?“Sinn ist überzeugt: „Wir befinden uns im Krieg gegen das Coronaviru­s. Drakonisch­e Eingriffe in die Wirtschaft sind erforderli­ch, um den Krieg nicht zu verlieren.“

 ?? Foto: Kai Nietfeld, dpa ?? Hans-Werner Sinn ist der bekanntest­e deutsche Ökonom. Immer wieder sagt er: „Ein Volkswirt muss fürs Volk da sein.“Das tut der 72-Jährige.
Foto: Kai Nietfeld, dpa Hans-Werner Sinn ist der bekanntest­e deutsche Ökonom. Immer wieder sagt er: „Ein Volkswirt muss fürs Volk da sein.“Das tut der 72-Jährige.
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