„Unser Rechtsstaat funktioniert“
Interview In wenigen Wochen soll Stephan Harbarth an die Spitze des Bundesverfassungsgerichtes rücken. Um die Demokratie in Deutschland ist ihm nicht bange. Wohl aber um den politischen Diskurs im Lande
Herr Professor Harbarth. Welchen besonderen Reiz hat das Bundesverfassungsgericht? Sie waren stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag und hätten auch in der Politik noch Karriere machen können. Stephan Harbarth: Das Bundesverfassungsgericht ist eine Institution, die man schon als junger Jurastudent mit großen Augen bestaunt und bewundert. Es trifft eine Vielzahl von fundamentalen Entscheidungen für unsere Gesellschaft. Wenn man als Jurist die Chance bekommt, dort zu arbeiten, nimmt man ein solches Angebot mit Demut und Dankbarkeit an.
Nun rückt für den Juraprofessor Andreas Voßkuhle der gelernte Rechtsanwalt Harbarth an die Spitze des höchsten deutschen Gerichts. Was haben Sie, was er nicht hat?
Harbarth: Wechsel an der Spitze des Bundesverfassungsgerichtes sind keine Zäsuren. Wir sind 16 Richterinnen und Richter mit teilweise sehr unterschiedlichen Biografien. Jede Biografie hat etwas, was anderen fehlt. Und jeder Biografie fehlt etwas, was andere haben. Was zählt, ist die Vielfalt der Perspektiven der Richterschaft in ihrer Gesamtheit.
Als Verfassungsrichter entscheiden Sie heute über Gesetze, die Sie als Abgeordneter selbst mit beschlossen haben. Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, Sie könnten befangen sein?
Harbarth: Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, dass auch Politiker an das Bundesverfassungsgericht berufen werden können. Dafür bedarf es einer Wahl mit Zwei-Drittel-Mehrheit, also weit über das nominierende politische Lager hinaus. Seit Jahrzehnten wird das mit Erfolg praktiziert – denken Sie nur an Jutta Limbach, Roman Herzog oder Ernst Benda. Was mich selbst angeht: Für die verfassungsrechtliche Überprüfung des Verbots von Kinderehen, an dem ich als Abgeordneter noch mitgewirkt habe, hat der Senat auf mein Ersuchen und ohne meine Mitwirkung eine mögliche Besorgnis der Befangenheit geprüft – und sie verneint. Und so werde ich das auch künftig handhaben. Wenn aus meiner Sicht eine Befangenheit vorliegen könnte, werde ich das dem Gericht anzeigen. Dann wird nach den gesetzlichen Vorgaben ohne meine Mitwirkung entschieden, ob ich an diesem Verfahren mitwirken kann oder nicht. Diese Frage stellt sich übrigens auch bei Richtern ohne frühere politische
Tätigkeit, zum Beispiel bei Hochschullehrern mit Blick auf frühere Gutachten.
Harbarth: Global betrachtet gibt es diese Erosion des Rechtsstaates. In vielen Ländern ist der freiheitliche Rechtsstaat erkennbar unter Druck und die Unabhängigkeit der Justiz ernstlich gefährdet – zum Beispiel in Polen. In Deutschland aber haben wir nach meinem Dafürhalten eine komplett andere Situation. Unser Rechtsstaat funktioniert.
Bei der Sterbehilfe ignoriert Gesundheitsminister Jens Spahn gerade ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, indem er die dafür erforderlichen Medikamente nicht freigibt.
Harbarth: Da wir zu dieser Frage am Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren haben, kann ich mich dazu nicht äußern.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat die Entscheidung zur Liberalisierung der Sterbehilfe als tiefen Einschnitt in die deutsche Rechts- und Sittengeschichte verurteilt und wörtlich von „furchtbaren Juristen“gesprochen. Ist diese Kritik gerechtfertigt?
Harbarth: Jeder hat das Recht, Kritik zu üben – auch an Verfassungsorganen. Der Begriff „furchtbare Juristen“aber ist seit Jahrzehnten durch die Beschreibung der NS-Richterschaft im Dritten Reich und nach Kriegsende belegt. Sei es mit Absicht, sei es aus Nachlässigkeit: Ein Verfassungsorgan der aus den Trümmern der Naziherrschaft entstandenen Bundesrepublik durch Verwendung dieses Begriffes in die Nähe von NS-Institutionen zu rücken, ist gänzlich inakzeptabel.
Wo ziehen Sie denn die Grenze zwischen verbotener Hetze und pointierter Meinungsäußerung? Das Verfassungsgericht hat der Meinungsfreiheit in vielen Urteilen konstituierende Bedeutung für den Rechtsstaat eingeräumt. Harbarth: Meinungsfreiheit wird nicht schrankenlos gewährleistet. Sie findet ihre Grenze am Persönlichkeitsrecht Dritter. Wo diese Grenze genau verläuft, lässt sich letztlich immer nur im Einzelfall entscheiden. Die Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht von herausragender Bedeutung, ohne Meinungsfreiheit gibt es keine Demokratie. Klar ist aber auch: Wenn ein Staat es nicht schafft, Bürgermeister, Gemeinderäte oder andere ehrenamtlich engagierte Bürger vor Beleidigungen und Bedrohungen zu schützen, werden sich diese Menschen irgendwann nicht mehr engagieren. Ohne dieses Engagement aber kann ein Staat nicht funktionieren.
Das deutsche Wahlrecht ist eine Art Dauerbrenner beim Bundesverfassungsgericht. Alle sind sich einig, dass der Bundestag mit mehr als 700 Abgeordneten zu groß ist. Was erwartet der ehemalige Abgeordnete Harbarth von der geplanten Reform des Wahlrechts? Harbarth: Der Bundestag wäre klug beraten, ein weiteres Anwachsen zu vermeiden. Dessen ist sich in Berlin ja auch jeder bewusst. Den konkreten Weg dafür zu finden, ist nicht einfach. Wie das Wahlrecht genau auszusehen hat, ist allerdings eine politische Entscheidung, bei der der Bundestag einen großen Spielraum hat. Hier Vorschläge zu machen, steht mir nicht an.