Wir saßen im Dunkeln – nur das Licht der Monstranz brannte
Theo Sendlinger, Binswangen
Die erste Brandgranate traf Stall und Scheune vom Anwesen Fleiner, die erste Brandstelle im Dorf. Nun folgte ein etwa zwei Stunden dauernder Artilleriebeschuss. Unsere Familie und ein älteres Ehepaar, das aus Augsburg evakuiert bei uns wohnte, suchten Schutz im Hauskeller. Nach Beginn einer weiteren Feuerpause rannte mein Vater mit uns allen in den nahe gelegenen „Kohlenkeller“. Er suchte eine Lagerstätte am hinteren Ende, tief unter dem darüber liegenden Berg. In dieser Tiefe konnten die nun vermehrt ankommenden Einschläge kaum gehört werden, sodass wir Kinder beinahe ungestört bis zum Morgen schlafen konnten.
Unser Herr Pfarrer Kusterer war ebenfalls mit der Monstranz anwesend. Er betete mit allen Schutzsuchenden Rosenkränze in einer Andacht, wie ich es sonst nie mehr erlebt habe. Plötzlich kam die Kunde durch den Keller, dass sich in den eingelagerten Fässern und Eimern, auf denen die Leute saßen, Farben, gefährliche Nitroverdünnung und Fette befanden. Sofort mussten alle mitgebrachten Kerzen und Laternen gelöscht werden. Wir saßen alle im Dunkeln. Nur das ewige Licht der Monstranz brannte.
Am nächsten Tag, 23. April 1945, war der Beschuss und für
Binswangen der Krieg zu Ende. Frühmorgens öffneten einige Leute verängstigt das Tor. Von unserem Lager an der hinteren Kellerwand sahen wir das Tageslicht. Mutige wagten sich hinaus und erblickten die ersten Amerikaner. Ein tiefes Aufatmen ging durch die circa 200 anwesenden Menschen. Alle waren der Hoffnung, dass der Krieg für uns endlich zu Ende war.
Auf Befehl der Amerikaner durfte der Keller vorerst nicht verlassen werden. Bei Kontrollen suchten sie nach Nazis und Wehrmachtsangehörigen. Tatsächlich hatten sich einige deutsche Soldaten unter uns gemischt. Auch ein 18-Jähriger, der schon Zivilklei- dung trug und nachweisen konn- te, dass er im Rahmen eines Aus- tausches von Verwundeten des Kriegsgegners von der Wehrmacht entlassen war, wurde abgeführt und musste noch lange Zeit in Gefangenschaft verbringen.
Nachdem wir unseren Schutzraum verlassen durften, schauten die Dorfbewohner nach ihren Häusern und Gehöften, so auch mein Vater. Er berichtete, dass an unserem Anwesen, außer Glasbruch, keine besonderen Schäden vorhanden waren. Männer, zur Feuerwehr ausgebildete Frauen und Ersatzhelfer, auch ehemalige Zwangsarbeiter, waren tagelang mit dürftiger Ausrüstung der Feuerwehr mit Löscharbeiten an etwa 40 Bränden beschäftigt.
Die deutschen Soldaten hatten vor dem erwarteten Angriff der Amis erzählt, dass sie kaum noch Munition zur Verteidigung gehabt hätten und dass die Maschinengewehre mit Platzpatronen geladen gewesen wären. In den Munitionsketten sei nur noch jeder zehnte Schuss scharf gewesen. Dieser Zustand war auch am Klang der Gewehrsalven aus dem Wald zu erkennen. Es war traurig und trotzdem interessant, wie entwaffnete deutsche Soldaten kolonnenweise mit erhobenen Armen am Kohlenkeller vorbei zum Abtransport geführt wurden. Der Glockenstuhl im Kirchturm war von einer Granate getroffen sehr stark beschädigt worden. Eine weitere Granate traf die Außenwand der Kirche, diese stürzte beschädigt auf die Kirchenbänke. Die mittlere Kuppel der Friedhofskapelle stürzte gesprengt zu Boden, die beiden Nebentürme und das Dach wurden ebenso sehr stark beschädigt. Man sagte, der Feind vermutete, dass dort oben deutsche Beobachter die Aussicht genutzt haben könnten. Eine noch verbliebene kleine Glocke blieb ohne Schaden. Die anderen Glocken waren längst zu Kanonenfutter verarbeitet worden.
US-Panzer, Lastwagen und Jeeps standen aufgereiht im ganzen Dorf. Der Dorfbach in der Bauernstraße, der zu dieser Zeit noch in der Mitte der Straße lag, wurde von den Panzern zerfahren und flachgepflügt. Von den amerikanischen Soldaten bekamen wir Kinder Schokolade und Bananen, was manche vorher noch nie gesehen hatten. Wir erhielten zwischendurch auch deren in Dosen verpackte Feldverpflegung. Raucher bückten sich nach jeder Kippe einer Zigarette, die, von den Amis zum Spaß nur halb angeraucht, vor deren Füße geworfen wurde.
Kleine Aushängezettel forderten die Bevölkerung auf, versteckte Soldaten, Waffen, Fotogeräte, ja sogar Brieftauben beim Ortskommandanten abzuliefern. Die Bauern suchten ihre Tiere im Dorf und auf den Feldern zusammen. In den Gehöften lagen tote Rinder und Schweine, die von den Bauern während dem Beschuss ins Freie getrieben wurden. Mensch und Tier aus den abgebrannten Höfen wurden von Nachbarn aufgenommen oder wohnten in ihren notdürftig ausgebauten Stallungen.
Mein Vater als Dorfschmied konnte langsam wieder beginnen, aus Überresten verbrannter Geräte benutzbare Wagen und Geräte für die Landwirte herzustellen.