Gefährliches Spiel mit der Inflation
Leitartikel Nach vielen Krisen hat EZB-Präsidentin Lagarde nicht mehr viele Optionen. Jetzt will sie mehr Raum für die Geldentwertung schaffen. Doch das schafft neue Risiken
Geld ist eine seltsame Sache. Im Prinzip nichts anderes als bedrucktes Papier. Oder eine digitale Zahl auf dem Konto. Dass Geld einen Wert hat, beruht auf dem Vertrauen, dass andere Menschen bereit sind, es entgegenzunehmen und dafür Güter zu geben. Semmeln, Kleidung, ein Auto. Das Vertrauen in eine Währung steigt, wenn wir wissen, dass sie knapp ist und ihren Wert behält. Was passiert, wenn das Vertrauen verloren geht, kann man in der Türkei beobachten. Dort tauschen die Bürger aktuell ihre Währung wie wild in Gold und Dollar, die türkische Lira fällt und fällt.
Ein gefährliches Spiel wird auch um den Euro getrieben.
Die Glaubwürdigkeit der Europäischen Zentralbank ist nach der Politik in den letzten Jahren zumindest angeknackst. Nach der Finanz
und der Eurokrise hatte die Bank richtigerweise die Zinsen gesenkt und ein Programm auf den Weg gebracht, um durch den Kauf von Staatsanleihen mehr Geld in die Märkte zu geben. Als sich die Wirtschaft später erholte, hat die Bank aber unter Mario Draghi nicht mehr zum Normalzustand zurückgefunden. Der Leitzins blieb bei null, die lockere Geldpolitik ist zum Dauerzustand geworden.
Der Verdacht liegt nahe, dass die EZB längst nicht mehr nur Preisstabilität verfolgt, sondern dass es auch darum geht, den notleidenden Staaten in Südeuropa hohe Zinsen und Belastungen zu ersparen. Jetzt, in der Corona-Krise, hat die Zentralbank kaum mehr Handlungsspielraum. Die Zinsen sind bereits im Keller. Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde könnte deshalb bald einen anderen, gewagten Schritt im Lockerungs-Wettlauf setzen.
Lagarde überlegt, das Ziel der EZB aufzugeben, die Inflation bei knapp unter zwei Prozent zu halten. Die Französin flirtet mit einem „flexiblen Ziel“, wonach nur noch im Durchschnitt eine bestimmte Rate erreicht werden soll. Vorbild wären die USA. Dort soll die Geldentwertung nur noch im Schnitt zwei Prozent betragen, sie kann also zeitweise darüber liegen, zum Beispiel bei drei Prozent.
Die Zentralbanken wollen die Erwartung schüren, dass die Preise stärker steigen können. Das soll die Konsumenten zum Geldausgeben animieren und einem Preisverfall sowie der Verschärfung der Corona-Wirtschaftskrise vorbeugen. Doch der Kurs hat Risiken.
Denn faktisch stellt ein flexibles Inflationsziel die Weichen für eine Fortführung der ultralockeren Geldpolitik bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Steigt die Inflation auf drei Prozent oder mehr, müsste die EZB die Zinsen erhöhen. Bei einem flexiblen Ziel kann sie abwarten. Das ist eine Abkehr von einem Stabilitätsgedanken, wie ihn die Bundesbank immer verfolgt hat. Gerade die Deutschen dürften von einer Inflationsrate von drei Prozent nicht begeistert sein.
Die lockere Geldpolitik hat längst gefährliche Nebenwirkungen: Staaten und Unternehmen können sich billig und hoch verschulden, sodass Zweifel angebracht sind, ob sie das Geld je zurückzahlen können. Der Nullzins hat auch Anleger in Aktien und Immobilien flüchten lassen. Deren Preise sind rasant gestiegen. Der Kauf eines Eigenheims ist für viele unbezahlbar geworden, die Altersvorsorge teurer und riskanter, schließlich sind Aktien schwankungsanfällig.
Die EZB muss nicht untätig bleiben, aber sie braucht eine glaubwürdige Strategie zum Thema Inflation. Sie muss klar und verbindlich definieren, wie lange sie ein Überschreiten der Inflationsmarke tolerieren wird. Zudem muss sie erklären, wann sie dann zu einem schärferen geldpolitischen Kurs zurückkehrt. Sonst wird das Vertrauen der Bürger in die EZB und den Euro sinken. Das wäre fatal.
Die EZB wird an Vertrauen
verlieren