Bürokraten, die Geschichte schreiben
Leitartikel Der Friedensnobelpreis für das Welternährungsprogramm bietet keinen Glamourfaktor. Aber seine Mitarbeiter sind systemrelevant – gerade in der Corona-Zeit
Es gibt das stolze Diktum von den „Männern, die Geschichte schreiben“(als der Satz in Mode kam, war weibliche Mitbestimmung noch nicht in Mode). Wie viel Wahrheit dieses Diktum enthält, ist in der Geschichtswissenschaft seit langem umstritten. Doch die Mitglieder des Osloer Nobelpreiskomitees haben in der Vergangenheit oft eine Schwäche dafür gezeigt. Sie zeichneten mit ihrem Friedensnobelpreis gerne schillernde Individuen aus – manchmal gar Männer, die lange Zeit nicht gerade als Friedensfürsten aufgefallen waren, etwa Henry Kissinger. Oder die noch gar keine Gelegenheit gehabt hatten, viel Frieden zu stiften, wie der erst frisch zum US-Präsidenten gewählte Barack Obama. Auch dieses Jahr standen große Namen für die wohl renommierteste politische Auszeichnung
der Welt zur Auswahl, darunter Donald Trump oder Klima-Aktivistin Greta Thunberg.
Doch so wie moderne Historiker immer stärker auf gesellschaftliche Strukturen und den Einfluss von Akteuren abseits des Rampenlichtes achten, hat sich auch das Nobelkomitee weiterentwickelt. Seine Ehrung für die Mitarbeiter des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen bietet wenig Glamourfaktor, weil sich damit kein öffentliches Gesicht verbinden lässt. Aber es zeichnet Menschen aus, die jeden Tag die (Über)Lebensfragen unserer Menschheit angehen – und mitten in der CoronaKrise mehr gefordert sind denn je.
Denn Corona ist eine zutiefst ungerechte Krise. Das Virus schert sich nicht um sozialen Ausgleich. Es trifft gnadenlos vor allem jene, die schon ganz unten sind. Auch hierzulande leiden Menschen mit prekären Existenzen oft am stärksten, doch zumindest droht in Deutschland niemand der Hungertod. Das sieht in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern ganz anders aus, wo zuletzt schon Kriege oder immer stärker spürbare Folgen des Klimawandels für neue Verelendung gesorgt hatten. Mehrere hundert Millionen Menschen weltweit könnten durch die Pandemie in extremen Hunger abrutschen, fürchten Experten – weil viele Tagelöhner nichts mehr verdienen, weil Grenzen abgeriegelt werden, weil Tourismuseinnahmen wegbrechen. Dazu kommen die Schläge am
Finanzmarkt: Rund 100 Milliarden Euro zogen Investoren binnen kurzer Zeit aus armen Ländern ab, zugleich stocken die Überweisungen von Migranten in ihre Heimatstaaten. Laut dem Internationalen Währungsfonds könnten rund 170 Länder mit 90 Prozent der Weltbevölkerung wegen der Krise schlechter dastehen als zu Beginn des Jahres.
Die Menschen im Welternährungsprogramm stemmen sich dagegen. Sie bleiben im Schatten, sie sind Bürokraten, über die viele Menschen gerne spotten. Aber sie sind höchst systemrelevant. Sie schaffen es, sich täglich zu motivieren, obwohl in ihrer Welt vieles immer schwer bleibt – und noch schwerer werden könnte, wenn die Welt bis zum Jahr 2050 geschätzt zehn Milliarden Menschen ernähren muss.
Sie sind vom Komitee aber nicht nur ausgezeichnet worden, weil sie sich gegen die Geißel Hunger stemmen, sondern auch weil sie für „Multilateralismus“brennen. Dessen Wert muss man in der Ära Trump immer betonen, aber auch in Zeiten von Corona. Nur ein Beispiel: Getreidespeicher sind insgesamt weltweit prall gefüllt, stehen aber vor allem in wenigen Staaten. Wer bekommt wie viel davon wie schnell und zu welchem Preis?
Durch Corona stellen sich ganz neue Verteilungsfragen. Diese dürfen nicht zu einem neuen globalen Verteilungskampf führen. Deswegen ist der Friedensnobelpreis 2020 für die (unbekannten) Mitarbeiter des Welternährungsprogramms ein wichtiges Signal.
Durch Corona stellen sich neue Verteilungsfragen