„Diese Entwicklung ist besorgniserregend“
Protest Die „Aktion Kinderschuhe“stammt laut Rechtsextremismus-Experte Sebastian Lipp aus der Szene der Querdenker. Dass einigen Eltern dieser Umstand und die Symbolik nicht bewusst sei, hält er für sehr bedenklich
Region Selbst gebastelte Plakate zwischen sorgsam aufgereihten Kinderschuhen: Protestaktionen dieser Art gab es in den vergangenen Wochen immer wieder, unter anderem vor dem Rathaus in Vöhringen sowie auf der Treppe vor dem Schulamt in Krumbach. Jedes dieser Paar Schuhe solle für ein Kind stehen, das unter der Corona-Politik leide, war dort von Eltern zu erfahren, die sich nach eigenen Angaben spontan zu diesem Protest versammelt und die Schuhe auf der Treppe platziert hatten. Die Bilder der aufgereihten Kinderschuhe assoziieren einige allerdings mit dem Holocaust im Dritten Reich.
Teilnehmer der Aktion in Krumbach distanzieren sich von den Vorwürfen, oder gaben an, nichts von einer solchen Symbolik zu wissen. Diesen Umstand nennt Rechtsextremismus-Experte Sebastian Lipp sehr bedenklich. Der Journalist beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradikalen Szene in unserer Region. „Diese Entwicklung ist besorgniserregend“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.
Die „Aktion Kinderschuhe“stamme ursprünglich ganz eindeutig aus der Querdenkerszene, sagt Lipp. Die ersten Aufrufe, berichtet er, seien durch die Querdenkergruppen in diversen Kanälen gelaufen. Von dort hätte die Aktion auch außerhalb der Szene ihre Kreise gezogen. So habe die Querdenkerszene weit in bürgerliche Kreise vordringen können. „Das ist Kalkül. Mit dem langfristigen Ziel, sich in der Außenwirkung und der Öffentlichkeit eine moderate Position zu schaffen“, sagt der Rechtsextremismus-Experte. „Und das ist ganz offensichtlich auch aufgegangen.“
Bundesweit hatten sich im April Menschen zu Protestaktionen getroffen, um sich für die Rechte ihrer Kinder stark zu machen. Angemeldet waren die Aktionen nicht, ein Organisator ist bis heute nicht bekannt. Für die Polizei ist die Aktion eine spontane Versammlung. So ähnlich war es auch bei weiteren Protesten unter dem Titel „Aktion Kinderschuhe“andernorts in Deutschland der Fall. Diese vermeintlich spontanen Versammlungen, berichtet der Experte, weisen indes – neben der Symbolik – jedoch einige Parallelen auf, die nicht von der Hand zu weisen seien.
Etwa seien die Plakate teils in Wortlaut und Aufmachung identisch. Bezug zur Querdenkerszene, dem Ursprung der „Aktion Kinderschuhe“, habe nach Angaben der Teilnehmer nirgends bestanden. Die Aussagen einiger, nichts von der Symbolik zu wissen, seien in dieser Häufung indes zudem recht auffällig, sagt Lipp: „Das mag vereinzelt
Sebastian Lipp stimmen, aber in dieser Masse ist es nur wenig glaubhaft. Dieses Muster ist zudem bekannt, diese Reaktionen überraschen mich deshalb nicht.“Schon ein einfaches Googeln nach dem Titel der Aktion wäre ausreichend gewesen, sagt er, um sich der Problematik der Symbolik bewusst zu sein. Zudem sei es mittlerweile gemeinhin bekannt, dass das Thema Corona sehr stark benutzt wird – eben auch von Rechten. Lipp empfiehlt: „Da sollte man auf jeden Fall hellhörig werden und sich informieren, bevor man auf eine solche Protestaktion geht.“
Denn die Symbolik der „Aktion Kinderschuhe“sei allemal hochproblematisch, betont der Rechtsextremismus-Experte. Die aufgereihten Kinderschuhe wirken zunächst tatsächlich wie ein harmloser Protest. Doch die Erinnerungen, die diese Bilder bei manchen wecken, sind grausam. Der Autor Johannes R. Becher (1891 bis 1958) schreibt etwa in einem Gedicht über die furchtbaren Morde an Millionen Kindern im Nationalsozialismus.
Der Kindermord sei klar erwiesen, dichtet er, „und nie vergess ich unter diesen, die Kinderschuhe aus Lublin.“
Diese Schilderung beruht auf dem Bild von Bergen an Kinderschuhen, die bei der Befreiung in den KZ-Lagern gefunden wurden und die Dimension der Morde vermitteln. „Es ist erstaunlich, dass das in Deutschland offenbar kaum jemandem auffällt. Dabei werden bei diesen Protesten ganz offensichtlich NS-Verbrechen relativiert und das Gedenken daran entwertet“, sagt Lipp. Im Fall der „Aktion Kinderschuhe“werde der Einsatz für die Rechte der Kinder vorgeschoben.
„Sind die Menschen von außerhalb der Szene erst einmal vor Ort, werden ihnen die einschlägigen Botschaften sozusagen eingeimpft und sie werden langsam radikalisiert“, warnt der Experte. „Diese Leute werden bezüglich der Querdenkerszene nicht verdächtigt, aber sie tragen den Diskurs weiter in die Gesellschaft.“Auch wenn es quantitativ seit Weihnachten bei den Querdenkern einen kleinen Einbruch gegeben habe, berichtet Lipp, sei das Phänomen nun wieder stärker präsent.
Und qualitativ sei doch ein starker ideologisierter Teil übrig geblieben, der sehr viel weiter radikalisiert sei, als es noch vor wenigen Wochen der Fall war. „Hier vermischen sich teilweise Verschwörungstheorien und antisemitisches Gedankengut“, meint der Experte. Die Argumentation der Szene sei dabei auf den ersten Blick oft schlüssig, sagt Lipp: „Das kann gefährlich sein.“Deshalb sollte man die Aussagen immer hinterfragen und im Gesamtkontext betrachten.
Eltern, die mit der Situation unzufrieden sind, und deshalb auf die Straße gehen wollen, müssen aufgrund solch besorgniserregender Entwicklungen freilich nicht darauf verzichten, betont der Experte: „Aber man sollte sich im Vorfeld schon genau ansehen, wofür man da auf die Straße geht und mit wem man sich gemeinmacht.“Die Querdenker-Bewegung zeichne sich etwa durch ein sehr egoistisches Forderungsprofil aus. „In erster Linie geht es darum, die Freiheit des Einzelnen nicht einzuschränken.“Der Experte empfiehlt daher, den eigenen Protesten einen solidarischen Ansatz zu geben. Lipp: „Das schreckt die Querdenker in aller Regel ab.“
Zur Person
Sebastian Lipp ist Journalist und be schäftigt sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradikalen Szene in Süd schwaben. In dem Blog „Allgäu rechtsaußen“dokumentiert der Kemptener die Aktivitäten der Rechten in der Region. Außerdem ar beitet er als freier Journalist für überregionale Medien. Im Mai 2019 zeichnete ihn der Bayerische Jour nalistenverband für die von ihm he rausgegebene umfangreiche Re cherche zum rechten Untergrund im Allgäu mit einem Preis zum Tag der Pressefreiheit aus. (loto)