Illertisser Zeitung

Genossin Bürgermeis­terin

Wahl In Graz, der zweitgrößt­en Stadt Österreich­s, ist den Kommuniste­n eine Sensation gelungen: Sie stellen künftig das Stadtoberh­aupt. In dieser Woche soll Elke Kahr gewählt werden. Ein Angriff auf die Demokratie oder ein lokales Phänomen?

- VON WERNER REISINGER

Graz Beige gestrichen­e Fassaden, große Fenster, ein lang gestreckte­r Anbau, vor dem Eingang hängen Plakate, die Veranstalt­ungen bewerben. „Volkshaus“steht in großen roten Lettern darüber. Drinnen empfängt ein abgewetzte­s, aber wohlbeheiz­tes Ambiente im 50erJahre-Stil samt knarrenden Dielen in den Büros. Das Neueste, was man im Erdgeschos­s findet, ist eine moderne Kaffeemasc­hine. Zwei Musikerinn­en suchen den Weg zu ihren Proberäume­n, Kulturinit­iativen haben sich hier dauerhaft eingemiete­t. Es gibt Seminarräu­me für Vorträge und Diskussion­en und im Sommer Konzerte und Feste. Ein linkes Zentrum mit allem, was dazugehört.

Es wird nur nicht, wie so oft, autonom verwaltet, sondern ist Basis eines jahrelange­n politische­n Projekts, Sitz der Grazer KPÖ – der Kommunisti­schen Partei Österreich­s. Seit seiner Erbauung durch die NS-Widerstand­skämpferin und Architekti­n Margarete Schütte-Lihotzky 1948 ist das Gebäude das Zentrum einer Partei, die Österreich­s Geschichte in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zwar entscheide­nd mitgeprägt hatte, jedoch rasch in die politische Bedeutungs­losigkeit gerutscht war – und trotzdem in der Steiermark eine Bastion, einem gallischen Dorf gleich, erhalten konnte.

Die Grazer Stadtpolit­ik bestimmen die Genossinne­n und Genossen von ganz links schon seit vielen Jahren mit. Jetzt aber haben sie eine Sensation geschafft, die über Österreich hinaus Schlagzeil­en macht: fast 29 Prozent der Stimmen bei der Gemeindera­tswahl Ende September, Platz eins, mit deutlichem Vorsprung vor der ÖVP des langjährig­en Bürgermeis­ters Siegfried Nagl.

Kann jemand die Miete nicht bezahlen, zahlt die KPÖ

Erstmals wird in der zweitgrößt­en Stadt Österreich­s eine Kommunisti­n, die Stadträtin Elke Kahr, das Amt der Bürgermeis­terin übernehmen. An diesem Mittwoch soll sie in der konstituie­renden Sitzung des Gemeindera­ts gewählt werden.

Max Zirngast, 32, wartet schon. Er verabschie­det gerade einen Reporter und bittet gleich in sein spartanisc­h eingericht­etes Büro. In jeder Hand hält er ein Telefon, im Laufe des Gesprächs wird alle 15 Minuten eines davon klingeln. Es ist der „Mieternotr­uf“der KPÖ, die Genossinne­n und Genossen wechseln sich beim Telefondie­nst ab.

Das ist einer der Bausteine, mit denen die KPÖ ihren Wahlerfolg errungen hat. Wer hier anruft, ist oft am Ende der finanziell­en Möglichkei­ten, nicht selten verzweifel­t, steht gar vor einem Rauswurf aus der Wohnung. Es ist längst bekannt, dass die Kommuniste­n rasch und unbürokrat­isch helfen. „Inzwischen rufen uns nicht nur Steirer, sondern auch Leute aus den anderen Bundesländ­ern an. Das eben war ein Oberösterr­eicher“, sagt der Journalist und Autor, der künftig eines von 15 Mandaten für die KPÖ im Gemeindera­t übernehmen wird.

Vor drei Jahren machte sein Fall Schlagzeil­en, als er, so wie der deutsche Journalist Deniz Yücel, in der Türkei festgenomm­en und mit einem konstruier­ten Terrorismu­svorwurf vor Gericht gestellt wurde. Er hatte kritisch über das Erdogan-Regime berichtet, stand einer linken, pro-kurdischen Gruppierun­g nahe. Drei Monate war Zirngast in Haft, schließlic­h wurde er freigespro­chen und durfte ausreisen. Solidaritä­tsbekundun­gen habe es viele gegeben, sagt Zirngast. Aber einzig die KPÖ habe auch konkret geholfen.

Konkret helfen, das sei seit 30 Jahren das Erfolgsrez­ept der KPÖ, sagt jener Mann, der als dessen „Architekt“gilt. Franz Stephan Parteder sitzt seinem jungen Genossen gegenüber und ist sichtlich stolz, den Journalist­en in die Partei geholt zu haben. Als Anfang der Neunzigerj­ahre im Osten der Realsozial­ismus zerbrach, sei man vor der Wahl gestanden: „Entweder wir geben auf oder wir stellen unseren Gebrauchsw­ert unter Beweis.“

Hilfe für Menschen in Wohnungsno­t, kommunale Wohnpoliti­k, Stadtplanu­ng – diese Themen habe man sich von den französisc­hen Kommuniste­n abgeschaut, gibt der 73-Jährige zu. „Kommuniste­n aus Lille betrieben damals ein Notfall-Telefon. Wenn dort eine Entmietung bevorstand, rückten die dortigen Stadträte aus, stellten sich in den Türrahmen und verhindert­en, dass der Mieter rausflog. Da dachten wir uns: Das wäre doch etwas für Graz.“

Heute steht auf den Mieternotr­uf-Plakaten der KPÖ die Privatnumm­er von Elke Kahr, der Lebensgefä­hrtin von Parteder und Bürgermeis­terin in spe. So wie alle kommunisti­schen Stadträte in Graz steckt sie einen Großteil ihres Gehalts als Politikeri­n in einen Notfallfon­d. Damit bezahlt die KPÖ Mietforder­ungen oder hinterlegt Kautionen. Kann jemand die Arztrechnu­ng nicht bezahlen, zahlt die Partei.

„Noch in den Neunzigern waren viele Gemeindeba­uten in Graz Substandar­d-Wohnungen. Das haben wir abgeschaff­t. Ein Bad für jede Gemeindewo­hnung, das war unsere Forderung“, sagt Parteder. Über die Jahre schafften es die Grazer Kommuniste­n, sich über ihre Kernwähler­schaft hinaus einen Ruf als Anpacker zu erarbeiten. Als eine Partei, die nicht von Verbesseru­ngen redet, sondern sie umsetzt. Das zahlte sich an der Urne aus, von Wahl zu Wahl. Nun übernimmt die KPÖ die Stadt und wird mit SPÖ und Grünen eine Koalition bilden.

Am Samstag stellten die Parteien ihren Koalitions­vertrag vor.

Für die einen ist dieser Wahlerfolg das Ergebnis von jahrelange­r, konsequent­er Basisarbei­t von „echten Linken“, die nur das machten, was die Sozialdemo­kraten jahrelang praktizier­t und nun aufgegeben hätten. Für die anderen ist es „Populismus“, der die Kommuniste­n auf Platz eins gebracht hat. Man darf ja nicht vergessen: Die KPÖ, das sagt sie ganz offen, will noch immer ein anderes politische­s System.

Vor allem bürgerlich-konservati­ve Kommentato­ren in Österreich tun sich schwer, den roten Erfolg einzuordne­n. Mit Politik habe das, was die KPÖ in Graz mache, nichts zu tun, das sei „Sozialarbe­it“, war in Zeitungen zu lesen. Von „Millionen von Toten“, die der Kommunismu­s in Europa gebracht habe und davon, dass „überall, wo die Kommuniste­n an der Macht waren, alles falsch lief“. Witze vom „Kernöl-Kommunismu­s“machen die Runde, von „Graznost“und „Stalingraz“.

Graz, Landeshaup­tstadt der Steiermark

● Graz ist mit gut 290 000 Einwohnern hinter Wien die zweitgrößt­e Stadt Österreich­s und zugleich die Landeshaup­tstadt der Steiermark.

Die Altstadt und das Schloss Eggenberg gehören zum Unesco-Weltkultur­erbe. An der Universitä­t sind rund 60 000 Studierend­e eingeschri­eben.

● Bei der Gemeindera­tswahl Ende September wurde die Kommunisti­sche Partei Österreich­s (KPÖ) mit knapp 29 Prozent stärkste Kraft. Sie löste die konservati­ve ÖVP ab (rund 26 Prozent). Dahinter landeten die Grünen, die FPÖ und die SPÖ. (AZ)

Dutzende Male musste Wahlsieger­in Elke Kahr Journalist­innen und Journalist­en aus halb Europa die Frage beantworte­n, wieso ihre Partei den Begriff „Kommunismu­s“nicht aus ihrem Namen streicht. Für eine Umbenennun­g, etwa Richtung Linksparte­i, sieht sie keinen Grund. Man stehe hinter der Tradition der KPÖ in Österreich, sagt sie unserer Redaktion, und die im Namen des Kommunismu­s verübten Verbrechen stünden „diametral dem gegenüber, wofür wir stehen“.

„Bedenklich ist, dass die KPÖ in Graz und in der Steiermark (in den Statuten) offiziell zum orthodoxen Kommunismu­s, der letztlich auch demokratie­feindlich ist, steht“, kritisiert dagegen der Grazer Politologe und Verfassung­sjurist Klaus Poier in der staatseige­nen Wiener Zeitung. „Das wird nach außen hin nicht gelebt, aber es stellt sich schon die Frage: Warum trennt man sich dann nicht auch formal davon? Macht man das nur aus Nostalgie?“

Die Debatte prallt an Kahr ab.

Wer die 60-Jährige interviewt, bekommt auch keine radikalen Ansagen zu hören. „Linkes Phrasendre­schen hat mich immer angezipft“, sagt sie in breitem steirische­m Dialekt. Mit „angezipft“meint sie genervt. Kahr will als Gegenteil eines linksradik­alen Bürgerschr­ecks gesehen werden. Die Vorwürfe von „Massenmord“bis „Populismus“kann sie nicht verstehen. „Wir sind eine Partei mit einer Weltanscha­uung, das ist klar und das wirft man uns auf der einen Seite vor. Auf der anderen Seite wirft man uns ‚Sozialarbe­it’ vor und sagt, wir sind eine Caritas. Da frag ich mich: Also was jetzt?“Das Einzige, was man der KPÖ vorwerfen könne, sei, dass die Partei relativ spät mit dem Stalinismu­s gebrochen habe. „Jetzt ist das interessan­t, um uns schlechtzu­reden. Aber die Menschen haben sich ihr Bild von der KPÖ gemacht, und da unterschät­zen diese Leute die Klugheit der Bevölkerun­g.“

Den Begriff der „Caritas“hat nach der Wahl unter anderem Politikwis­senschaftl­er Poier ins Spiel gebracht. „Die KPÖ ist ein Sammelbeck­en: Sie bekommt von links und rechts Proteststi­mmen und wird auch von vielen Bürgerlich­en, die der ÖVP ein kleines Protestsig­nal senden wollen, gewählt“, sagt er.

Tatsächlic­h gibt es – abseits von der Person Kahrs und des jahrzehnte­lang aufgebaute­n Rufs als Nothelfer-Partei – eine Reihe von Gründen, die den Wahlerfolg erklären. 18 Jahre saß Siegfried Nagl im Bürgermeis­tersessel, viele Grazer wollten offenbar einen Wechsel.

Denn der ÖVP-Politiker machte Fehler: Seinem Vorhaben, die steirische Landeshaup­tstadt als Austragung­sort der Olympische­n Winterspie­le zu bewerben, konnten viele nichts abgewinnen. Nagls Idee einer Seilbahn quer durch die Stadt kam ebenfalls nicht an.

Als die Kommuniste­n bei der Gemeindera­tswahl 2017 erneut ihr Ergebnis verbessert­en und knapp einen zweiten Stadtratss­itz gewannen, entzog Nagl seiner Konkurrent­in Kahr das Wohnressor­t, das diese seit 2005 innehatte; wohl in der Absicht, ihr so die Profilieru­ngsmöglich­keit zu nehmen – ein schwerer Schnitzer, den die Menschen in Graz ihm übel nahmen. So schaffte es die KPÖ, eben auch viele bürgerlich­e Stimmen zu holen. Angst vor Revolution und Enteignung? Fehlanzeig­e.

Die Sozialstru­ktur in Graz kommt den Kommuniste­n, die ihre historisch­e Basis in den ehemaligen Industrieg­ebieten rund um den steirische­n Erzberg nie verloren hatten, ebenfalls zugute. In den Neustadtvi­erteln, etwa in Gries, leben nicht nur viele Studierend­e, sondern auch Arbeiterin­nen und Arbeiter, nicht wenige mit Migrations­hintergrun­d. Eine gutgestell­te Mittelschi­cht findet man hier nicht. In Gries stellt die KPÖ mit sieben Bezirksrät­en die größte Fraktion, hier kann sie ihre Wohnpoliti­k voll entfalten.

Zur Wahrheit gehört jedoch: Rund um Kahr sind auch typische Altkommuni­sten mit entspreche­ndem Profil zu finden. Nur haben diese der KPÖ auf dem Weg zum Wahlerfolg offensicht­lich nicht geschadet. „Wo jemand privat hinreist, ist mir egal“, sagt Kahr über die Fahrt ihres Genossen Werner Murgg nach Belarus im August. Murgg sitzt für die KPÖ im steirische­n Landtag. In der Heimat des Diktators Alexander Lukaschenk­o gab er einem TV-Sender ein Interview, in dem er die EU-Sanktionen gegen Weißrussla­nd kritisiert­e.

Vom „Weißwasche­n“eines kriminelle­n Regimes war die Rede, als

Da ist trotzdem das Problem mit den Altkommuni­sten

kurz nach der Gemeindera­tswahl ein Video des Interviews in sozialen Medien auftauchte. Er habe nicht im Namen der Partei gesprochen, sagt Kahr, sie kenne ihn lange genug, um zu wissen, dass er kein Anhänger einer solchen Ideologie wie jener Lukaschenk­os sei. Konsequenz­en für Murgg gibt es aber bis heute nicht.

Und auch Kahr selbst musste sich rechtferti­gen, als sie vor einigen Wochen einem kroatische­n Fernsehsen­der ein Interview gab, in dem sie über den früheren jugoslawis­chen Diktator Tito sprach. Es sei ihr um die Blockfreih­eit Jugoslawie­ns gegangen, sagt Kahr dazu.

Wie sieht das die junge Kommuniste­n-Generation? Auch Max Zirngast steht zu seiner Weltanscha­uung, er spricht von der „Überwindun­g des Systems“und von Sozialismu­s. Aber: „Es ist klar, dass so eine Überwindun­g nur mit den Menschen Sinn macht, mit demokratis­chen Mitteln. Das kann auch nicht von heute auf morgen gehen. Und es geht auch nicht auf kommunaler Ebene.“Er verstehe sich als „Internatio­nalist“.

„Die Leute sagen immer, wir seien die ‚bessere Sozialdemo­kratie’. Das würde ich so nicht sehen: Die Sozialdemo­kratie hat ihren Frieden mit dieser Gesellscha­ftsordnung gemacht. Wir wollen die noch immer überwinden“, ergänzt Parteder – und zwar „ohne Parteibuch­wirtschaft“. Wie auch Zirngast steht er neu-linken Projekten wie der Wiener Partei „Links“interessie­rt, aber auch skeptisch gegenüber. Wichtig sei vor allem eine Aussöhnung mit der KPÖ-Bundespart­ei, mit der die Grazer Kommuniste­n auch oder wegen ihres Sonderwegs über Jahrzehnte im Streit lagen.

Ohne die Partei, ohne die KPÖ, werde es in Österreich keinen parteipoli­tischen linken Aufbruch geben können, sind sich Zirngast und Parteder sicher: „Niemand nimmt doch mehr an, dass wir die Schreckens­figuren sind, als die wir immer dargestell­t werden.“

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Foto: Erwin Scheriau/APA, dpa „Linkes Phrasendre­schen hat mich immer angezipft“: Elke Kahr, die künftige Bürgermeis­terin von Graz.

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