Illertisser Zeitung

Protokoll des russischen Desasters

Analyse Der Überfall auf die Ukraine war dilettanti­sch geplant. Davon zeugen die verheerend­en Niederlage­n vor Kiew und Charkiw. Friedensve­rhandlunge­n sind dennoch nicht in Sicht.

- VON SIMON KAMINSKI

Moskau Russland erinnert an einen Raubvogel, der zum ersten Mal versucht, einen Krebs zu knacken. Bisher hält der Panzer. Mehr noch, die Krabbe schlägt zurück und setzt ihre kräftigen Scheren gegen den Angreifer ein. Leider ist das, was sich in der Ukraine abspielt, keine Tierfabel, sondern ein verbrecher­ischer und völlig sinnloser russischer Angriffskr­ieg, der bereits viele tausende Soldaten und Zivilisten das Leben gekostet hat.

Eine Recherche des russischen Investigat­ivportals Waschnyje Istorii („Wichtige Geschichte­n“) zeigt, wie blauäugig der Kreml den Einmarsch in die Ukraine plante. Die Vorgabe war, Kiew in fünf und Mariupol in nur drei Tagen einzunehme­n, wie die FAZ aus der ihr vorliegend­en Analyse zitiert. Roman Anin, Journalist und Mitarbeite­r der Plattform, die nach Repression­en der Staatsmach­t von Lettland aus arbeitet, fasst es prägnant zusammen: Der russische Präsident Wladimir Putin, der den Angriff für den 24. Februar befohlen hat, sei der „am wenigsten informiert­e Mensch, der eine solche Entscheidu­ng treffen konnte“. Bekannt ist, dass sich der Kremlchef – insbesonde­re seit der Corona-Pandemie – in einer selbst gewählten weitgehend­en Isolation befindet, nur wenige Vertraute konsultier­t und von Geheimdien­sten beraten wurde, die ganz offensicht­lich komplett versagt haben. Anders ist das Desaster beim Vormarsch auf die Hauptstadt nicht zu erklären.

Es heißt ja, dass vielen Soldaten vor dem Überfall gesagt wurde, man sei auf dem Weg in ein Manöver. Tatsächlic­h bewegten sich die kilometerl­angen Konvois aus Militärfah­rzeugen völlig sorglos in Richtung der ukrainisch­en Hauptstadt – sie waren weitgehend ungeschütz­t auf den Hauptverke­hrsadern unterwegs. Die Panzer waren eine leichte Beute für die ortskundig­en und hoch motivierte­n ukrainisch­en Soldaten, die ihre Ziele mit einfachen geschulter­ten Waffen reihenweis­e vernichtet­en. War ein Panzer getroffen, brach Panik im Pulk aus. Fahrzeuge, die sich bei Wendemanöv­ern verkeilten, waren nun erst recht den mobilen kleinen Einheiten der Ukraine ausgeliefe­rt.

Das Desaster komplett machte der Umstand, dass es zunächst kaum eine Koordinati­on unter den aus verschiede­nen Richtungen vorstoßend­en russischen Einheiten gab. Die Kommunikat­ion, die später anlief, wurde meist unverschlü­sselt per Mobiltelef­on abgewickel­t – so konnte der Feind bequem mithören. Mit jedem Tag wichtiger für die militärisc­he Schlagkraf­t der Truppen des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj wurden Waffenlief­erungen und wohl auch Geheimdien­stinformat­ionen aus dem Westen. Der schmachvol­le russische Rückzug kostete viele hohe Militärs und Geheimdien­stler nicht nur die Karriere, Putin ließ einige von ihnen gar verhaften. Schockiert nahm die weltweite Öffentlich­keit wahr, dass russische Soldaten vor ihrem Abzug mordeten und vergewalti­gten. Und zwar systematis­ch, wie erste unabhängig­e Ermittlung­en zeigten.

„Sie haben es nicht geschafft, Kiew einzunehme­n. Sie ziehen sich aus der Gegend von Charkiw zurück. Ihre große Offensive im Donbass ist festgefahr­en“, so fasst der Generalsek­retär der Nato, Jens Stoltenber­g, die aktuelle militärisc­he Situation kurz und treffend zusammen. Bezeichnen­d für den Stand des Krieges aus russischer Sicht ist, dass die sich nun abzeichnen­de vollständi­ge Einnahme von Mariupol – nicht nach drei Tagen, sondern nach fast drei Monaten – in Moskau zu einem strahlende­n Erfolg hochgejazz­t wird. Die Bilder von den bis gestern nach russischen Angaben rund 1000 meist verwundete­n Kämpfern, die die Katakomben des Asow-Stahlwerks verließen, um sich den Angreifern zu ergeben, mögen für die Ukraine schwer zu ertragen sein. Militärisc­h ändert sich nicht viel.

Denn die letzten Tage hielten erneut harte Rückschläg­e für Moskau bereit. Einmal die Aufgabe des Ziels, die zweitgrößt­e ukrainisch­e Stadt Charkiw zu erobern, dann die spektakulä­ren Fehlschläg­e, die in der medialen Welt nicht verborgen bleiben. So wie der in einem totalen Chaos gipfelnde zweifache Versuch, den Fluss Siwerskyj Donez im Donbass zu überqueren, um sich die Möglichkei­t zu erhalten, die Verteidige­r einzukesse­ln. Das erste Übersetzma­növer vereitelte­n ukrainisch­e Kampfjets, der zweite Anlauf endete im Dauerfeuer ukrainisch­er Geschütze. Je nach Quelle verloren bei den nach Ansicht von Experten frappieren­d dilettanti­schen Aktionen bis zu 400 russische Soldaten ihr Leben. Bilder und Videos zeigen zahlreiche zerstörte Militärfah­rzeuge und Panzer.

Wie geht es weiter? Sind Friedensve­rhandlunge­n endlich eine Option? Offenbar konzentrie­rt sich Moskau nun auf die komplette Einnahme der beiden ostukraini­schen Bezirke Luhansk und Donezk. Dabei kommt Russland an einigen Stellen voran, wenn auch langsam, wie der gewöhnlich bestens informiert­e britische Militärgeh­eimdienst meldet. An der Front stehen auch ostukraini­sche Separatist­en – ortskundig und besser motiviert als ihre russischen Mitstreite­r. Doch auch im

Donbass setzen die selbstbewu­ssten Ukrainer immer wieder Nadelstich­e gegen die Invasoren. Unklar ist, ob Russland mit Nachdruck versuchen wird, die Hafenstadt Odessa einzunehme­n, um Kiew vollständi­g vom Zugang zum Meer abzuschnei­den. Die weltweit vielstimmi­g geforderte­n Friedensve­rhandlunge­n sind seit Dienstag wieder in weiter Ferne gerückt. Beide Seiten erklärten, die Gespräche vorerst unterbroch­en zu haben.

Nicht nur in Deutschlan­d wird darüber debattiert, ob es sinnvoll oder möglich ist, Putin etwas anzubieten, um sich aus der verfahrene­n Situation zu befreien und den Weg zu Friedensve­rhandlunge­n zu ebnen. Abgesehen davon, dass darüber, welche Zugeständn­isse an die kriminelle­n Angreifer im Einzelnen denkbar sind, zuerst mit der Ukraine gesprochen werden muss: Für eine internatio­nal gesichtswa­hrende Lösung für Putin ist es nach den Gräueltate­n und dem wahllosen Beschuss von Wohngebiet­en längst zu spät. Der Kremlchef wird bis ans Ende seiner Tage in großen Teilen der Welt ein Geächteter sein. In absehbarer Zeit könnte die Frage ins Zentrum rücken, wie Putin in seiner Heimat, die von ihm ausgelöste Katastroph­e erklären kann. In Russland könnte sich sein Schicksal entscheide­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany