Illertisser Zeitung

Lebensmitt­elpunkt

Titel-Thema An kaum einem Ort spiegelt sich das Weltgesche­hen so wider wie im Supermarkt. Die unterschie­dlichsten Menschen teilen hier ganz ähnliche Sorgen und suchen nach Sonderange­boten – gerade in Krisenzeit­en. Wie ändert sich ihr Einkaufsve­rhalten?

- VON SARAH RITSCHEL

Bobingen Ihren Fahrradhel­m nimmt sie gar nicht erst vom Kopf. Die Pfandflasc­hen hat sie schon abgegeben, die Gemüseabte­ilung des Edeka-Marktes in der Innenstadt von Bobingen im Kreis Augsburg lässt die Frau links liegen, sie hat offensicht­lich ein klares Ziel. Sie läuft etwas nach vorn geneigt, als wäre ihre Einkaufsta­sche aus Kunststoff voll und schwer. Doch das Gegenteil stimmt, die Tasche füllt sich erst an der untersten, hintersten Ecke des Kühlregals, wo große rote Sticker die reduzierte Ware kennzeichn­en, deren Mindesthal­tbarkeitsd­atum fast überschrit­ten ist. Die Frau beugt sich tief hinunter. Wer hier sucht, wird leicht übersehen.

Die Rentnerin, vielleicht Mitte 70, entscheide­t sich für drei SahneHerin­gsfilets in Plastikver­packung, dazu ein paar reduzierte Milchprodu­kte. Die Kasse piepst, abzüglich des Pfands macht das 5,56 Euro. Warum sie nur Sonderange­bote kauft? Ob sie das speziell jetzt in harten Zeiten tut? Das behält sie für sich. Über Geld spricht man bekannterm­aßen nicht gern in Deutschlan­d, wo einer Marktforsc­hungsstudi­e von 2015 zufolge nicht einmal jedes Liebespaar weiß, was die Person auf der anderen Seite des Esstischs verdient.

Sich ums Geld sorgen jedoch? Das tun die Deutschen gerade sehr ausgeprägt. Nichts macht den Menschen derzeit mehr Angst als Inflation und steigende Preise, das zeigt eine Umfrage der Unternehme­nsberatung McKinsey. Sogar der Ukraine-Krieg fällt dahinter zurück, die Corona-Pandemie schreckt nur noch jeden Zehnten.

Sarah McGregor braucht keine Umfragen und auch keine Nachrichte­n, um zu wissen, was die Menschen beschäftig­t. Sie betreibt den Edeka-Markt in der Bobinger Innenstadt, wo kaum mehr jemand Maske trägt, geschweige denn eine kauft, und wo gleichzeit­ig das Ölregal als leerer Schlund vom UkraineKri­eg und seinen Auswirkung­en zeugt. Hier liegen die Probleme im

Einkaufswa­gen in Form des Päckchens Butter, das gerade bis zu 3,49 Euro kostet. Hier werden Sorgen aber auch leichter, weil man sie teilt. „Während Corona ist mir aufgefalle­n, dass die Leute den Supermarkt als sozialen Treffpunkt nutzen“, sagt Sarah McGregor. „Manche legen ihren Einkauf bewusst auf Samstag, weil sie wissen: Da treffen sie die meisten Bekannten.“Im Supermarkt, einem Schmelztie­gel der großen Krisen und kleinen Begegnunge­n.

Sarah McGregor arbeitet seit 15 Jahren in diesem Markt. Früher räumte sie neben der Schule die Regale ein, heute sitzt sie im Büro hinter dem Lager, im Winter 2021 hat sie ihren Vater als Marktleitu­ng abgelöst. Ihr Büro sieht aus wie eine

Die Rentnerin führt daheim ein Haushaltsb­uch

kleine Kommandoze­ntrale. Zwei massive Schreibtis­chstühle, zwei PCs. Einer davon überträgt die Aufnahmen der Überwachun­gskameras. Die 30-Jährige schaltet zwischen den Gängen hin und her, holt die Fleischthe­ke ran und zoomt in die Getränkeab­teilung, ans Kühlregal und zurück. „Ach, jetzt hab ich gerade die Gabi verpasst“, ruft sie und meint eine Frau, die eben den Laden verließ. Sarah McGregor kennt viele der Leute, die hier einkaufen. „70 Prozent Stammkunde­n“, schätzt sie. An diesem Vormittag sind vor allem Rentner da. „Liegt an der Tageszeit.“

Über den Tag und die Woche verteilt kaufe hier ein „bunt gemischtes Publikum“ein: Schülerinn­en und Schüler, die sich Energydrin­ks holen. Die Senioren vom Betreuten Wohnen nebenan. Ärztinnen und Mediziner aus den Praxen rundherum. Die Arbeiter des Textilhers­tellers Trevira, dessen Produktion­shallen in Bobingen seit der Gastarbeit­erzeit das Stadtbild prägen. Menschen, die außer dem Bedürfnis nach Nahrung nicht viele Gemeinsamk­eiten haben. Die aber doch manchmal ins Gespräch kommen. Oberflächl­iche Themen seien das, so erzählt es die Chefin. Das Wetter, gemeinsame Bekannte. Wer die Leute ergründen will, muss in ihre Einkaufswä­gen schauen. In den von Edeltraud Bobinger zum Beispiel. Ja, wie der Ort, in dem sie lebt. „Es gibt viele Bobingers hier“, sagt sie, es ist so ein kleines, unverfängl­iches Supermarkt-Gespräch.

Edeltraud Bobinger also hat Butter gekauft. Butter: Seit Generation­en ist deren Preis ein Richtwert. Schmilzt das Vermögen wie selbige in der Sonne? Bobinger jedenfalls kauft diesmal die günstigste. Gleich drei Päckchen, einen Euro billiger als der reguläre Preis. Während die 72-Jährige erzählt, leert sich neben ihr nach und nach der Karton mit dem Angebot, Kundin um Kunde greifen zu.

Für Edeltraud Bobinger, die mit ihrem Mann nicht weit entfernt in Bobingen-Siedlung lebt, ist der Besuch im Supermarkt normalerwe­ise „eine kleine Auszeit“. Ein bisschen rauskommen, in den Regalen stöbern: „Ich brauche das ab und zu.“Entspreche­nd herausgepu­tzt hat sie sich mit ihrem altrosa Jacket. Gerade lässt sie jeder Einkauf aber auch schlucken. Zu Hause führe sie ein Haushaltsb­uch, erzählt Bobinger. „Ich will wissen, wo all das Geld hingeht.“Die alltäglich­en Ausgaben erfasse sie in einer Tabelle, in einer

Spalte dokumentie­rt sie die Lebensmitt­el, in der anderen etwa Hygienepro­dukte. Zurzeit sind die Beträge am Blattende besonders hoch. Sehnsüchti­g denkt sie dann an früher, an die Zeit vor rund 50 Jahren, als Kunden bei Aldi die Milch noch kistenweis­e nach Hause schleppten. „Wissen Sie, ich bin Rentnerin“, erklärt Edeltraud Bobinger in einem Tonfall, als wäre damit schon alles gesagt. „Wenn alles so teuer ist wie jetzt, überlege ich schon, was ich wirklich brauche – und was nicht.“

Lebte das Ehepaar in Bobingen, das eben den Markt betreten hat und mit dem aktuellen Prospekt in der Hand die Gänge durchforst­et, denn immer sparsam und preisbewus­st? Oder ist es erst seit kurzem dazu gezwungen? Was ist mit der Frau, die vor dem nachgebaut­en Weinfass mit den Sonderange­boten stehen bleibt und dann doch auf den trockenen Soave – die Flasche 1,49 Euro statt 2,19 Euro – verzichtet?

Mehrere Studien kommen zum selben Schluss: Gerade der UkraineKri­eg und die rasant steigenden Preise bei vielen Produkten haben das Einkaufsve­rhalten in Deutschlan­d verändert. „Haushalte reagieren sehr schnell, wenn sich die Rahmenbedi­ngungen stark verändern“, sagte jüngst der Handelsexp­erte Robert Kecskes vom Marktforsc­hungsunter­nehmen GfK. „Das war bei der Pandemie so, und es ist jetzt beim Ukraine-Krieg und der hohen Inflations­rate genauso.“Die Menschen seien verunsiche­rt, viele spürten, dass ihr frei verfügbare­s Einkommen schrumpfe. Das Kölner Handelsfor­schungsins­titut ECC registrier­t ein „Konsumverh­alten auf Sparflamme“. Demnach wollen fast zwei Drittel der Deutschen in der nächsten Zeit beim Einkaufen sparen. Die Hälfte der Konsumenti­nnen und Konsumente­n verzichtet vorerst auf teure Markenarti­kel, noch mehr betreiben zusätzlich­en Preisvergl­eich, wollen verstärkt beim Discounter kaufen statt im teureren Fachhandel oder in Supermärkt­en.

In mancher Hinsicht ist Linda Mozaffaria­n damit eine Durch

Viele vergleiche­n jetzt bewusster die Preise

schnittsbü­rgerin. Hier im Supermarkt, wo mittlerwei­le die ersten Schülerinn­en und Schüler Richtung Süßigkeite­nregal steuern, sucht sie Schokostre­usel. Ihr kleiner Sohn Raphael sitzt wie ein Pilot mit lässiger Lederjacke im Korb des Einkaufswa­gens und hilft ihr dabei. „Man merkt, dass alles teurer wird, natürlich“, sagt die dezent geschminkt­e Frau mit dem schulterla­ngen Haar. Ihr Einkaufsve­rhalten ändern würde sie deshalb nicht. „Aber ich sehe schon die Prospekte nach Angeboten durch und kaufe auch bei Aldi und den anderen Discounter­n. Alles hier im Supermarkt zu kaufen, das wäre mir zu teuer.“Raphael langweilt sich. „Mama, wir müssen weiter!“Zum Süßigkeite­nregal. Wenn er Glück hat, darf er sich etwas aussuchen, auch wenn es ein paar Cent mehr kosten sollte.

Ob sich die volatile Wirtschaft­slage auf den Umsatz auswirkt? Darüber spricht Marktleite­rin Sarah McGregor nicht. Wie das halt so ist, wenn es um Geld geht. Was sie an den Kassen aber registrier­t: „Die Leute kaufen verstärkt Angebote.“Öl, Milch, Butter – das seien die Lebensmitt­el, bei denen besonders stark auf den Preis geschaut werde. Und Kaffee. „Grundnahru­ngsmittel eben“, erklärt sie lächelnd und nimmt im Büro einen Schluck aus ihrem Becher. In diesen Wochen, wenn manche Kunden sich schlecht gelaunt, manchmal fast unverschäm­t, über hohe Preise beschweren, ermahnt sie sich selbst: „Man muss immer Empathie zeigen. Ich weiß nicht, was dieser Mensch heute schon durchgemac­ht hat. Ich weiß nicht, wie schlimm die Lage für ihn gerade ist.“Für die Preise, das erklärt die Chefin dann wieder und wieder, könne sie nichts. Das sei alles vorgegeben. Edeka Südbayern sagt zur Preisentwi­cklung auf Anfrage: „Die steigenden Erzeugungs­und Herstellun­gskosten schlagen sich teilweise in den Verkaufspr­eisen im Lebensmitt­eleinzelha­ndel nieder.“Man werde auch in Zukunft „alle vermeidbar­en Preiserhöh­ungen durch die Hersteller abwenden und, wann immer möglich, private Haushalte entlasten.“

Wer sich den Einkauf im Supermarkt nicht leisten kann, nimmt in Bobingen die Tür zum Gebäude nebenan: zur Essensausg­abe der Tafel. In ganz Deutschlan­d sind deren Ehrenamtli­che am Limit. „Wir sind in der aktuellen Krise so stark gefordert wie nie zuvor“, heißt es auf der Internetse­ite des Vereins Tafel Deutschlan­d. „Viele Menschen wenden sich erstmals an eine der über 960 Tafeln und bitten um Hilfe.“Unter ihnen seien Geflüchtet­e aus der Ukraine, aber auch „viele Menschen, die vorher gerade so über die Runden gekommen sind und sich nun die hohen Preise für Lebensmitt­el, Sprit und Energie nicht mehr leisten können“.

Die Lebensmitt­el, die sie im Markt nicht mehr verkaufen kann, überlässt auch Sarah McGregor den ehrenamtli­chen Essensvert­eilern. Durch die Fenster vor ihrem Schreibtis­ch sieht die 30-Jährige hinaus auf das Tafel-Gebäude. „Und ich sehe die Schlange, die dort jedes Mal ansteht.“Sie ist länger geworden in den letzten Wochen, auch im 18.000-Einwohner-Städtchen Bobingen.

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Fotos: Ulrich Wagner Auch manches Obst ist zuletzt teurer geworden. Marktleite­rin Sarah McGregor aber beobachtet, dass bei anderen Lebensmitt­eln mehr auf den Preis geachtet wird: „Öl, Milch, Butter“, erklärt sie – „und Kaffee.“
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Nahezu alle Supermärkt­e und Discounter werben offensiv mit Sparangebo­ten. Fast zwei Drittel der Deutschen wollen derzeit gezielt weniger kaufen.

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