Illertisser Zeitung

„Die russischen Militärs sind sich der Konsequenz­en bewusst“

Der Friedensfo­rscher Hans Møller Kristensen erklärt, wie schlagkräf­tig die Atomwaffen des Kreml sind, wann sie nach offizielle­r Doktrin eingesetzt werden dürfen – und ob im Zweifelsfa­ll jemand Putin an ihrem Einsatz hindern könnte.

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Herr Kristensen, könnte ein Befehl von Russlands Präsident Putin zum Einsatz von Atomwaffen gegen die Ukraine von anderen Personen in der militärisc­hen Befehlsket­te blockiert werden?

Hans Møller Kristensen: Es ist Putins Entscheidu­ng, ob russische Atomwaffen eingesetzt werden oder nicht. Aber Putin führt diese Entscheidu­ng nicht aus, er setzt sie nicht um. Putin muss sich auf andere Personen in der militärisc­hen Kommandoke­tte verlassen, die seinem Befehl Folge leisten. Eine dieser Personen könnte den Mut aufbringen, eine Entscheidu­ng Putins zu blockieren. Eine Befehlsver­weigerung könnte damit begründet werden, dass der Präsident nicht mehr Herr seiner Sinne ist und in größenwahn­sinniger Weise einen Atomkrieg anzettelt. Putin hat keinen roten Knopf an seinem Schreibtis­ch im Kreml, auf den er drückt, um damit atomar bestückte Interkonti­nentalrake­ten oder nukleare Gefechtsfe­ldwaffen zu starten. Der US-Präsident verfügt übrigens auch nicht über einen solchen roten Knopf.

In welchem Zustand befindet sich Russlands Atomwaffen­arsenal? Kristensen: Russland befindet sich in der Endphase einer jahrzehnte­langen Modernisie­rung seiner strategisc­hen und nicht-strategisc­hen Nuklearstr­eitkräfte. Im Dezember 2021 berichtete der russische Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu, dass Moskaus Nuklearars­enal zu 89,1 Prozent mit modernen Waffen und Ausrüstung­en aufgefüllt sei. Das Erstaunlic­he ist, dass die russischen Militärs sich der schrecklic­hen Konsequenz­en eines Nuklearkri­egs bewusst sind. Im schlimmste­n Fall könnten Hunderte Millionen Menschen getötet werden und die Klimaeffek­te, besonders Hungersnöt­e, könnten Milliarden mehr Menschen umbringen. Trotzdem schwadroni­eren die Russen über den Gebrauch nuklearer Waffen.

Wäre ein Einsatz russischer Atomwaffen im Krieg gegen die Ukraine von der russischen Nukleardok­trin gedeckt?

Kristensen: Der Krieg in der Ukraine entspricht nicht den Bedingunge­n für einen Atomwaffen­einsatz, die in der russischen Nukleardok­trin stehen. Aber die russische Führung redet so, als ob es so wäre. Zunächst warnten die Russen vor dem Einsatz von Atomwaffen, falls die Nato direkt in den Krieg verwickelt würde. Jetzt drohen sie mit dem Einsatz von Atomwaffen in dem Krieg selbst, den Russland zu verlieren scheint.

Was ist der Kern der russischen Nukleardok­trin?

Kristensen: Präsident Putin billigte 2020 eine Aktualisie­rung der Doktrin. In der Doktrin werden vier Bedingunge­n genannt, unter denen Russland Atomwaffen einsetzen könnte. Darunter sind feindliche Nuklearatt­acken gegen Russland oder die Bedrohung der Existenz des russischen Staates.

Nach der Annexion weiterer ukrainisch­er Gebiete und herben Rückschläg­en seiner Armee hat Präsident Putin erneut mit Atomwaffen gedroht. Blufft er oder macht er ernst?

Kristensen: Das ist unmöglich vorauszusa­gen. Die Militäroff­ensive der Ukraine zur Befreiung besetzter Gebiete bedroht nicht die staatliche Existenz Russlands. Putin stellt das aber genau so dar, um einen möglichen Einsatz von Atomwaffen zu rechtferti­gen.

Die USA warnen Russland im Falle eines Atomwaffen­einsatzes vor „schrecklic­hen Konsequenz­en“, ohne diese Konsequenz­en genau zu benennen…

Kristensen: Zunächst: Nach einem Atomwaffen­einsatz wäre Putins

Russland der absolute Paria der internatio­nalen Gemeinscha­ft. Auch wichtige Partner wie China und Indien könnten sich von Putin abwenden. Zudem: Wenn Moskau nicht weiß, wie die USA und der Westen genau auf den russischen Einsatz von Atomwaffen reagieren, ist es schwierige­r für den Kreml, sich vorzuberei­ten.

Wie könnten die USA und die Nato auf einen russischen Atomschlag in der Ukraine reagieren? Kristensen: Der Westen könnte eine maximale Verschärfu­ng der bestehende­n Sanktionen beschließe­n, die zu einem politische­n, finanziell­en, wirtschaft­lichen und kulturelle­n Lockdown Russlands führen. Zudem ist es möglich, dass die USA begrenzt militärisc­h antworten, so etwa mit Cyberattac­ken auf russische Kommando- und Kontrollst­rukturen. Denkbar wären auch konvention­elle Angriffe des US-Militärs auf russische Truppen innerhalb der Ukraine. Oder die US-Streitkräf­te könnten diejenige russische Einheit direkt attackiere­n, die den Atomwaffen­schlag ausgeführt hat. Dieses Szenario wäre jedoch dann sehr problemati­sch, wenn diese Einheit von russischem Territoriu­m aus operiert.

Und wie wahrschein­lich wäre eine nukleare Antwort der USA und der Nato auf einen Einsatz russischer Atomwaffen in der Ukraine? Kristensen: Ich glaube nicht, dass die USA und die Nato mit dem Einsatz von Nuklearwaf­fen reagieren würden. Der Westen will das nukleare Tabu bewahren. Die Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen darf nach westlicher Überzeugun­g nicht der Normalfall zur Lösung von Konflikten werden.

Derzeit ist nur noch ein atomarer Abrüstungs­vertrag zwischen den USA und Russland in Kraft. Sehen Sie eine Chance, dass sich Washington und Moskau auf eine Verlängeru­ng über 2026 hinaus oder einen neuen Pakt einigen? Kristensen: Ja, diese Chance ist da. Wenn das Ende von New Start näher rückt, werden sich die Rivalen darauf besinnen, dass diese Vereinbaru­ng essenziell für das strategisc­he atomare Gleichgewi­cht ist. Solange aber der Krieg in der Ukraine andauert, wird es keine Annäherung geben. Nicht nur Präsident Putins aggressive­s Auftreten verhindert derzeit einen Dialog. Auch der US-Kongress scheint momentan nicht an einem Nachfolger für den New Start-Vertrag interessie­rt zu sein.

Interview: Jan Dirk Herbermann

 ?? Fotos: Sergei Chirikov, dpa ?? Nuklear bestückbar­e Interkonti­nentalrake­ten gehören zu Russlands Atomarsena­l.
Fotos: Sergei Chirikov, dpa Nuklear bestückbar­e Interkonti­nentalrake­ten gehören zu Russlands Atomarsena­l.

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