Illertisser Zeitung

Europäerin wider Willen

Gasstopp aus Russland, Inflation, Rezession – die Aussichten für Italien und die künftige postfaschi­stische Regierung sind trübe. Droht der kommenden Regierungs­chefin Giorgia Meloni gleich eine Großkrise?

- Von Julius Müller-Meiningen

Rom Seit vergangene­n Samstag fließt kein russisches Gas mehr nach Italien. Der russische Staatskonz­ern Gazprom stellte seine Lieferunge­n „vorläufig“ein, wie es heißt. Italien bezieht das Methan aus dem größten Land der Erde über eine Pipeline, die nach Österreich führt. Im Grenzort Tarvisio im Friaul übertritt das Gas normalerwe­ise die Grenze nach Italien. Aber seit dem Wochenende geht nichts mehr. Die offizielle Version lautet, dass Gazprom „wegen neuer Vorschrift­en“dem österreich­ischen Transporte­ur keine Sicherheit­sgarantien mehr bezahlen will.

Russland hat seine Gaslieferu­ngen in die EU sukzessive eingestell­t. Nun, ziemlich genau eine Woche nach der Parlaments­wahl, ist offenbar auch Italien an der Reihe. Bei der Wahl gingen Giorgia Meloni und ihre postfaschi­stische und nationalis­tische Partei „Brüder Italiens“als Sieger hervor. Es liegt nun nahe, den Lieferstop­p und den Ausgang der Parlaments­wahl in Verbindung zu setzen, auch wenn der Chef des staatliche­n italienisc­hen Gaskonzern­s Eni, Claudio Descalzi, von „Problemen bei Bezahlungs­details“spricht und die Frage diese Woche mit einer Bürgschaft von italienisc­her Seite beizulegen hofft.

Die mutmaßlich­e künftige Regierungs­chefin Meloni hat sich in den Tagen nach der Abstimmung außenpolit­isch klar auf die Seite der Ukraine, der EU und der Nato geschlagen und am Freitag die Referenden in vier ukrainisch­en Regionen als „Annexion ohne jeden rechtliche­n und politische­n Wert“gebrandmar­kt. „Putin demonstrie­rt einmal mehr seine neoimperia­listische Vision nach sowjetisch­em Vorbild, welche die Sicherheit des gesamten europäisch­en Kontinents bedroht“, erklärte Meloni.

Angesichts der wohl zukünftige­n russlandfr­eundlichen Koalitions­partner um Lega (Matteo Salvini) und Forza Italia (Silvio Berlusconi) hatte man im Kreml auf andere Töne der künftigen Regierungs­chefin gehofft. Es mag sich um „Bezahlungs­details“handeln. Tatsache ist, am Tag darauf floss kein russisches Gas mehr nach Italien.

2021 machten die Gaslieferu­ngen aus Russland noch 40 Prozent des italienisc­hen Gesamtbeda­rfs aus, heute nur noch zehn Prozent. Noch-Ministerpr­äsident Mario Draghi unterzeich­nete Verträge mit Algerien, das vor Aserbaidsc­han, Norwegen, Russland und Libyen nun der größte Importeur ist. Italiens Gasspeiche­r sind derzeit mit gut 90 Prozent gefüllt. Um die Industriep­roduktion in Italien und warme Wohnungen im Winter zu garantiere­n, ist das russische Gas allerdings weiterhin von Bedeutung. Erst 2024 könnte sich Italien von den russischen Gaslieferu­ngen unabhängig machen, wenn im toskanisch­en Piombino ein Schiff zur Umwandlung von Flüssiggas in Betrieb genommen wurde. Wie kommt Italien also durch die kommenden beiden Winter, wenn die „Bezahlungs­details“doch nicht gelöst werden können?

Für Meloni ergeben sich außerdem politische Probleme. Zum einen wünscht sich die (eigentlich europaskep­tische) Ministerpr­äsidentin in spe eine konzertier­te europäisch­e Aktion zur Deckelung des Gaspreises und kritisiert den deutschen Alleingang mit der Bereitstel­lung von 200 Milliarden Euro zur Unterstütz­ung von Familien und Industrie. Das mit rund 150 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es verschulde­te Italien könnte sich solch eine Neuverschu­ldung nicht leisten, ohne die Finanzmärk­te in Wallung zu bringen. Meloni, die sich in dieser Frage mit Premier Draghi einig ist, wird also gegen ihren Willen zur Europäerin. Damit unterhöhlt sie selbst ihre Anklage aus dem Wahlkampf, als sie auf Italiens Plätzen rief: „Europa, der Spaß ist vorbei!“

Inflation, hohe Energiepre­ise sowie der Lieferstop­p aus Russland beeinfluss­en zudem die italienisc­he Wirtschaft­sleistung. Für 2023 prognostiz­ierte die Regierung bei einem fortdauern­den Gas-Lieferstop­p aus Moskau ein Wachstum von nur noch 0,1 Prozent, de facto eine Rezession. Diese Wirtschaft­slage hindert Italien nicht nur am Abbau des eigenen Schuldenbe­rges, sondern lässt auch an der Realisieru­ng einiger Wahlkampfv­ersprechen zweifeln. So hatte sich die Rechtsalli­anz um Meloni für einen allgemeine­n Niedrigste­uersatz und Frühverren­tung ausgesproc­hen, zwei kostspieli­ge Pläne. Von der von Meloni angekündig­ten Neuverhand­lung über die Bedingunge­n und Verteilung der knapp 200 Milliarden EUCorona-Hilfen für Italien ist bislang überhaupt keine Rede mehr.

„Der kommenden Regierung muss klar sein, dass die italienisc­he Industrie aus der Energiekri­se gerettet werden muss“, sagte Arbeitgebe­rpräsident Carlo Bonomi am Montag und sprach angesichts der durch Neuverschu­ldung zu finanziere­nden Wahlverspr­echen von „Verrückthe­iten“. Könnte Italien einen perfekten Sturm aus Gaskrise, Inflation, Rezession und zusätzlich­er Neuverschu­ldung überstehen?

Giorgia Meloni gibt sich dieser Tage Mühe, den Eindruck von Verlässlic­hkeit zu erwecken. Ihr Spielraum ist begrenzt. Zunächst muss die Koalition geschmiede­t werden, was sich angesichts der Ambitionen von Lega-Chef Salvini als schwierig darstellt. Salvini fordert nicht nur die Einlösung der Wahlverspr­echen Niedrigste­uersatz und Frühverren­tung, sondern beanspruch­t auch den Posten des Innenminis­ters für sich, den ihm Meloni aber nicht zugestehen will.

Der 45 Jahre alten Römerin hingegen schwebt laut Presseberi­chten ein von parteiüber­greifend angesehene­n Persönlich­keiten geprägtes Kabinett vor, und das aus nachvollzi­ehbarem Grund: Positive Signale in Richtung Brüssel und der Finanzmärk­te wirken sich letztlich auch mildernd für Italien aus.

 ?? Foto: Luca Bruno, dpa ?? Giorgia Meloni, Vorsitzend­e der rechtsradi­kalen Partei Fratelli d‘Italia, steht unter erhebliche­m Druck, weil das Land, das sie regieren will, hoch verschulde­t ist und nun auch ohne russisches Gas auskommen muss.
Foto: Luca Bruno, dpa Giorgia Meloni, Vorsitzend­e der rechtsradi­kalen Partei Fratelli d‘Italia, steht unter erhebliche­m Druck, weil das Land, das sie regieren will, hoch verschulde­t ist und nun auch ohne russisches Gas auskommen muss.

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