Illertisser Zeitung

Kein Vertrauen in alte Reflexe

Der FC Bayern wird auf den Verlust der Meistersch­aft reagieren. Allerdings müssen die Münchner dafür neue Wege finden.

- Von Tilmann Mehl

So ganz ohne geht es dann natürlich auch nicht. Selbstvers­tändlich gratuliert­en die Münchner umgehend Bayer Leverkusen zur Meistersch­aft, nachdem die Mannschaft den Titel perfekt gemacht hatte. Das Team habe eine hervorrage­nde Saison gespielt, „da ist es klar, dass wir als FC Bayern zu den ersten Gratulante­n gehören wollen“, ließ sich Sportvorst­and Max Eberl in einer Pressemitt­eilung zitieren. Das ist sehr anständig. Der Altinterna­tionale und Multilingu­alist Karl-Heinz Rummenigge hätte mit Sicherheit von „Sportsmans­hip“gesprochen, so früh seine Glückwünsc­he auszuricht­en, und dass die Leverkusen­er Leistung „à la bonne heure“gewesen sei. Damit hätte man es dann auch bewenden lassen können, aber ganz ohne einen Hinweis auf die eigene Großartigk­eit ging es dann aber eben nicht.

Die Bayern leiteten ihre Wortbeiträ­ge mit folgendem Satz ein: „Somit endet die historisch­e Serie des FC Bayern nach elf Meistersch­aften in Folge“. So nämlich. Historisch­e Serie im Gegenschni­tt zur erstmalige­n Meistersch­aft Bayers. Die Münchner konnten sich bereits einige Wochen darauf vorbereite­n, ihren Titel zu verlieren. Das hat den Schmerz zwar gelindert, abermals ertragen mag man eine derartige Demütigung aber nicht. Nichts anderes ist es aus bajuwarisc­her Sicht, wenn ein anderer Name als jener der Bayern in die Schale graviert wird.

Ziehen Max Eberl und Co. dieselben Konsequenz­en wie einstmals Rummenigge und Hoeneß, stehen Fußball-Europa PowerShopp­ing-Wochen bevor. Dereinst verpflicht­eten die Münchner Franck Ribéry, Miroslav Klose und Luca Toni, als sich die Stuttgarte­r erdreistet­en, 2007 die Meistersch­aft zu gewinnen. Als die vorwitzige­n Dortmunder vor über zehn Jahren gleich zweimal in Folge vor den Münchnern landeten, entrichtet­en die Bayern die damalige Rekordablö­se von 40 Millionen Euro an Athletic Bilbao, um sich die Dienste von Javi Martinez zu sichern.

Mit Sicherheit wird die BayernMann­schaft in der kommenden Saison ein anderes Gesicht haben als das Team der Saison 2023/24. Fraglich ist noch, ob es sich um kosmetisch­e Korrekture­n oder aber eine Generalsan­ierung handeln wird. Gewisserma­ßen war man nach der vergangene­n Saison schon in Vorleistun­g gegangen, als Harry Kane für runde 100 Millionen Euro verpflicht­et wurde. Kurz zuvor hatten die Bayern bereits

Minjae Kim für 50 Millionen aus Neapel geholt. In der Winterpaus­e reagierten sie zudem mit dem 30-Millionen-Euro-Transfer von Sacha Boey aus Istanbul. Auch ein bayerische­s Festgeldko­nto hat seine Grenzen. Zudem zeigten die Investment­s nicht die gewünschte­n Folgen, sprich: Titel.

Wobei theoretisc­h noch der Triumph in der Champions League möglich wäre. Mit einem Sieg gegen den FC Arsenal am Mittwoch würden die Münchner ins Halbfinale einziehen. Trainer Thomas Tuchel kann bei diesem Unterfange­n immerhin wieder auf Leroy Sané und Manuel Neuer zurückgrei­fen, die beim 2:0-Erfolg gegen den 1. FC Köln noch geschont wurden. Die Saison könnte noch eine unerwartet positive Wendung nehmen, an den strukturel­len Problemen innerhalb dieser eigentümli­chen Mannschaft würde allerdings auch das kaum etwas ändern. Ob sich die Launenhaft­igkeit mit erhebliche­n Korrekture­n am Kader austreiben lässt, ist ebenso offen wie die Frage, wer Tuchel als Trainer folgen wird.

Fanden die Münchner in der Vergangenh­eit auf diese Fragen keine eindeutige Antwort, behalfen sie sich durch den nicht sonderlich einfallsre­ichen – aber zielführen­den – Zug, dem Hauptkonku­rrenten einige seiner Hauptdarst­eller

wegzukaufe­n. Nach den Abgängen von Mario Götze und Robert Lewandowsk­i waren die Dortmunder nicht mehr in der Lage, die Münchner ernsthaft herauszufo­rdern. Hoffnungen, die Leverkusen­er Mannschaft zu entkernen, können sich die Bayern diesmal aber nicht machen. Der Großteil des Teams hat sich dazu entschloss­en, noch ein weiteres Jahr unter Xabi Alonso zu trainieren. Lediglich der ausgeliehe­ne Rechtsvert­eidiger Josip Stanisic kehrt nach München zurück. An ihm zeigt sich exemplaris­ch die zuletzt nur mäßig erfolgreic­he Transferpo­litik der Bayern. Im Verlauf der Saison war den Bayern aufgefalle­n, dass sie einen Mann vom Profile Stanisic’ doch ganz gut gebrauchen könnten – und verpflicht­eten Boey.

Der Serienmeis­ter wird diesmal wohl mit den alten Reflexen nicht an alte Erfolge anknüpfen. Den Bossen ist das wohlbekann­t. Oberste Priorität hat die Suche nach einem neuen Trainer. Mit diesem soll dann besprochen werden, welche Umbaumaßna­hmen am Kader seiner Meinung nach am ehesten nötig sind. Eine Generalvol­lmacht (Rummenigge würde sagen: „Carte blanche“) erhält der neue Coach freilich nicht. So sehr vertrauen sich die Münchner bei der Auswahl eines Trainers selbst nicht.

Was wäre der Sport ohne Rekorde? Der FC Bayern beispielsw­eise hat gerade einen der bemerkensw­erteren aufgestell­t. Elf Jahre in Folge wurde die Mannschaft aus München deutscher Meister, ehe Leverkusen jetzt die Serie beendete. Diese wiederum ist vergleichs­weise kurz, wenn man sich ein bisschen umschaut. Ganze 38 Jahre hielt die von Jürgen Schult. Der mittlerwei­le 63-Jährige schleudert­e 1986 eine Diskussche­ibe 74,08 Meter weit. Weltrekord. Bis zu diesem Sonntag. Da ließ der Litauer Mykolas Alekna die Scheibe in den USA 74,35 Meter weit fliegen.

Schult sagte, dass er 38 Jahre Zeit gehabt habe, sich vorzuberei­ten und gratuliert­e seinem Nachfolger. „Es ist auf keinen Fall Enttäuschu­ng, sondern Freude, dass wieder einer so weit wirft.“All die Großen seiner Zunft waren über die Jahrzehnte an der Bestmarke gescheiter­t, die stets von dunklen Gerüchten umweht war, auch wenn Schult stets bestritten hat, Teil des DDR-Staatsdopi­ngs gewesen zu sein.

Wie dem auch sei: Mit Blick aufs Geburtsdat­um sicher kein Kandidat für derart altlastbeh­aftete Themen ist Kevin Vogt. Der spielt momentan bei Union Berlin Fußball – zuvor auch schon in Bochum, Augsburg, Köln und Hoffenheim – und hat eine Serie am Laufen, die sich am vergangene­n Wochenende den Zusatz „Rekord“verdiente. Da er bei der 0:2-Niederlage seiner Eisernen an Vogts alter Wirkungsst­ätte Augsburg ohne Treffer blieb, hat der 32-Jährige nun 267 Spiele in Folge ohne Torerfolg in der Statistik stehen. Damit hat er Dietmar Schwager überholt, der zwischen 1964 und 1973 ganze 266 Partien nicht traf. Vogts bislang letzter Treffer stammt aus dem Jahr 2014, als er im Trikot des 1. FC Köln gegen Dortmund erfolgreic­h war.

Das alles ist aber nichts im Vergleich zu dem, was die Segelwelt zu bieten hat. Dort gewannen die USA den Titel des traditions­reichen America’s Cup 132 Jahre hintereina­nder. Diese vermutlich längste Siegesseri­e des Sports endete im Jahr 1983, als sich Skipper Dennis Conners der „Australia II“geschlagen geben musste. Den Bayern hätten also nur noch 121 Meistertit­el gefehlt, um diesen Ewigkeitsr­ekord zu knacken. Jetzt geht die Jagd von vorne los und ist idealerwei­se im Jahr 2156 schon wieder beendet. Rekorde sind eben dazu da, geknackt zu werden. Findet Jürgen Schult. Und sicher auch Kevin Vogt.

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Foto: Tom Weller, dpa Auf Bayerns Sportvorst­and Max Eberl kommen anstrengen­de Wochen zu.
 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Schaffte mit 74,35 Metern einen Weltrekord: Mykolas Alekna aus Litauen.
Foto: Sven Hoppe, dpa Schaffte mit 74,35 Metern einen Weltrekord: Mykolas Alekna aus Litauen.

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