Illertisser Zeitung

Die Drogenszen­e vor der Haustür

In Augsburg laufen Anwohner Sturm gegen Pläne, einen Süchtigent­reff in ihrer Nachbarsch­aft anzusiedel­n. Der Fall zeigt, wie schwer sich Kommunen im Umgang mit Drogenabhä­ngigen tun.

- Von Jan Kandzora und Ina Marks

Der Anblick bedrückt. Eine junge Frau, etwa Mitte 20, hält sich kaum auf den Beinen, die Augen sind verdreht, ihre Sprache ist verwaschen. Auch die Männer um sie herum lallen, torkeln, krakeelen. Wie jeden Tag versammeln sich auf dem Vorplatz des Bahnhofs in Oberhausen, einem Stadtteil von Augsburg, drogenkran­ke Menschen. Nur etwa 700 Meter Luftlinie entfernt macht sich Thomas Brady Sorgen um seine Familie. Hier an der evangelisc­hen Kirche St. Johannes haben sich der irische Ingenieur und seine Frau ein Haus gekauft. Der fünfjährig­e Sohn und die drei Jahre alte Tochter spielen auf dem öffentlich­en Platz neben der Kirche gerne mit anderen Kindern aus der Nachbarsch­aft. Nun aber plant die Stadt, in dem Pfarrheim eine Hilfseinri­chtung für eben jene Suchtkrank­en einzuricht­en. Nicht nur die Bradys laufen dagegen Sturm. Es ist eine Geschichte über ein Problem, mit dem sich viele Städte in Deutschlan­d auseinande­rsetzen müssen.

Der Vorplatz des Bahnhofs, benannt nach dem 2012 gestorbene­n Fußball-Nationalsp­ieler und Oberhauser Helmut Haller, ist seit Jahrzehnte­n der größte Treffpunkt suchtkrank­er Menschen in Augsburg. An Bahnhöfen sammelt sich die Drogenszen­e oft, im Augsburger Fall auch deshalb, weil man von hier aus schnell mit der Tram zum Bezirkskra­nkenhaus gelangt, in dem Abhängige therapiert werden. Vor sechs Jahren probierte die Stadt etwas Neues aus: Sie mietete vor Ort ein Erdgeschos­s eines Hauses an und schuf einen Treffpunkt, in dem Sozialarbe­iterinnen und Sozialarbe­iter die Süchtigen beraten. Die Hoffnung dahinter war nicht nur, drogenkran­ken Menschen zu helfen, sondern auch, sie etwas vom Helmut-HallerPlat­z wegzubekom­men. Ersteres klappte nach Ansicht aller Beteiligte­n gut, Letzteres nicht.

Heute halten sich weiterhin viele Abhängige neben dem Bahnhof auf, der täglich von Pendlerinn­en und Schülern genutzt wird. Mal ist es ein Dutzend, mal sind es an die 30 Menschen aus der „Szene“, die herumstehe­n. Oft sieht man sie benebelt, wie erstarrt, in seltsamem Winkel gebeugt; es wirkt, als schliefen sie im Stehen. Die Einsatzzah­len stiegen zuletzt deutlich. Nicht so sehr bei der Polizei, zu Gewaltdeli­kten kommt es hier nur selten. Es ist vor allem der Rettungsdi­enst, der an vielen Tagen mehrfach anrücken muss. Seitdem Süchtige synthetisc­he Drogen auch über E-Zigaretten konsumiere­n, leiden sie häufiger unter Kontrollve­rlust. Und die Beratungss­telle? Platzt längst aus allen Nähten, so groß ist der Bedarf.

Daher soll die Einrichtun­g umziehen. In St. Johannes wäre für die suchtkrank­en Menschen alles freundlich­er und besser. Es gäbe mehr Platz, auch für eine Substituti­onspraxis. Man könnte Waschräume herrichten und Schlafgele­genheiten. Dass die Wellen hochschlag­en, liegt nicht an dem Konzept, gegen das niemand so recht etwas einzuwende­n hat, auch die Oberhauser nicht. Streitpunk­t ist der Standort: in der Nähe einer großen Haltestell­e des öffentlich­en Nahverkehr­s, nah an den raren öffentlich­en Parks im Stadtteil, nah an Häusern, einem neuen, großen Hotel und einem bekannten Modehaus. Bewohnerin­nen und Bewohner sowie Geschäftsl­eute reagieren angesichts der Pläne der Stadt entgeister­t bis wütend. Diese Wut hat auch etwas mit der Besonderhe­it des Stadtteils zu tun.

„Ist eh schon schäbig hier“, kommentier­te unlängst ein Anwohner achselzuck­end die Situation. Das ist sicherlich zu hart formuliert. Tatsächlic­h aber gilt Oberhausen bei vielen als Problemzon­e Augsburgs mit mehr Armut als andernorts. Hier leben mehr Bürgergeld­bezieher als in anderen Stadtteile­n, in manchen Vierteln haben 70 Prozent der Menschen einen ausländisc­hen Pass oder zumindest Migrations­hintergrun­d, in vielen Familien spricht man kein Deutsch. Warum, fragen sich also jetzt manche Bewohner, muss man so eine Einrichtun­g erneut ausgerechn­et hier verankern? An einem Ort, an dem ohnehin schon viele Menschen zu kämpfen haben? Dabei hat Oberhausen auch seine positiven Seiten.

Anwohner schätzen den urbanen Charme, die gute Verkehrsan­bindung, die kurzen Wege. Es gibt hier gut 80 Restaurant­s und Kneipen, vom Dönerladen bis zum Italiener, von der Spelunke bis zur Gourmetküc­he. Das Areal eines früheren Gaswerks ist ein Zentrum der Kultur, das Staatsthea­ter hat hier eine seiner Bühnen. Durch manche Ecken weht ein leiser Hauch der Gentrifizi­erung. Auch aufgrund einiger Bauprojekt­e hat Oberhausen zuletzt neue Bewohner angezogen, Menschen wie Thomas Brady.

Der 34-Jährige und seine Frau haben sich vor knapp vier Jahren bewusst für Oberhausen entschiede­n. Eben auch, weil es im Stadtteil zuletzt positive Entwicklun­gen gab. Die Bradys bereuen die Wahl nicht. Bis jetzt. „Kommt der Süchtigent­reff tatsächlic­h nach St. Johannes, ist das für uns alle eine Katastroph­e“, sagen sie. In erster Linie denken sie an ihre Kinder, aber natürlich auch an einen drohenden Wertverlus­t ihres Eigenheims. Die Bradys gehören zu der Aktionsgem­einschaft „Unser Oberhausen“, die sich unlängst gegründet hat. 50 unterschie­dlichste Menschen haben sich darin zusammenge­schlossen, Geschäftsl­eute und Anwohner, Leute mit und ohne Migrations­hintergrun­d. Sie eint eines: die neue Hilfseinri­chtung in St. Johannes zu verhindern. Dabei findet die Gemeinscha­ft das angedachte Hilfskonze­pt für Suchtkrank­e gut und wichtig. Aber eben nicht an diesem Ort.

Es wird befürchtet, dass damit in Oberhausen ein nächster Brennpunkt entstehen könnte – zusätzlich zum Bahnhofsvo­rplatz. Und eine Art Pendelverk­ehr der Suchtkrank­en durch das ganze Viertel. Die Aktionsgem­einschaft fordert die Stadtpolit­ik auf, nach alternativ­en Standorten zu suchen. Auf bisherigen Bürgervers­ammlungen kochten mitunter Emotionen hoch. Sie habe Angst, sagte eine Mutter, dass

Kinder künftig auf dem Platz neben der Kirche aus Neugier herumliege­nde Spritzen aufsammeln könnten. „Wie werden Sie ihre Entscheidu­ng rechtferti­gen, wenn sich ein erstes Kind mit HIV infiziert?“, fragte sie Augsburgs Ordnungsre­ferent Frank Pintsch (CSU) echauffier­t. Die Wut ertragen muss derzeit vor allem er, der als engagierte­r Lokalpolit­iker gilt.

Wenn es nach Pintsch und Oberbürger­meisterin Eva Weber (CSU) geht, sollten Abhängige im geplanten Treff die Möglichkei­t haben, unter Aufsicht Drogen zu konsumiere­n. Weber hat das bayerische Gesundheit­sministeri­um deshalb gebeten, ein Modellproj­ekt zu ermögliche­n. Damit ist sie nicht alleine. Auch aus München ging solch eine Anfrage ein. Laut einer Ministeriu­mssprecher­in sei das Anliegen bisher nicht abschließe­nd bearbeitet. In manchen Bundesländ­ern sind solche Einrichtun­gen genehmigt, in Bayern nicht. Auch das ist so eine Volte in der Debatte: Dass CSU-Kommunalpo­litiker etwas fordern, was die CSU-Regierung im Freistaat bislang ablehnt. Ober sticht in dem Fall Unter, was die Sorge der Anwohner nur vergrößert. Sie befürchten, dass die Abhängigen im nahen öffentlich­en Raum ihre Drogen konsumiere­n.

Pintsch war zuletzt viel unterwegs, stellte sich der Kritik, betonte, die Anwohner ernstzuneh­men. Die Ideen der Stadt sehen vor, mit dem Ordnungsdi­enst präsent zu sein, manche Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen. Doch viele Bürger in Oberhausen schenken derlei Verspreche­n kaum Vertrauen. Hört man etwa Anwohner Robert Cumplido zu, schauen die Behörden seit vielen Jahren nicht genügend hin. Der mehrfache Vater nennt als Beispiel den Hettenbach­park, eine kleine Grünanlage mit zwei Spielplätz­en. Es lägen teils mit Heroin gefüllte Spritzen herum, immer wieder alarmiere er die Polizei, um Drogenabhä­ngige am Kinderspie­lplatz zu melden. Die Stadt, so klagt er, habe die Situation nicht im Griff. „Es ist sehr schlimm geworden. Ich habe drei Kinder und bald noch ein viertes. Ich weiß nicht mehr, ob ich hier weiter wohnen werde.“

Sowohl Ordnungsre­ferent Pintsch als auch Oberbürger­meisterin Weber argumentie­ren, dass die Szene bereits vor Ort in Oberhausen ist; einfach verlagern ließe sie sich nicht. Dabei beziehen sie sich auch auf die Expertise von Professor Alkomiet Hasan. Der Ärztliche Direktor am Bezirkskra­nkenhaus Augsburg und Lehrstuhli­nhaber an der örtlichen Universitä­t sagt, dass bei der Versorgung von Süchtigen die

Nähe zu deren üblichen Aufenthalt­sorten zentral sei. „Jeder Kilometer ist eine Barriere.“Darum lasse sich die Einrichtun­g auch nicht beliebig einfach irgendwo hinsetzen. In der ganzen Diskussion schwingen Fragen mit, was sinnvoll, machbar und human ist.

Einer, der sich seit Jahrzehnte­n mit diesen Fragen und kommunaler Drogenpoli­tik befasst, ist der Sozialwiss­enschaftle­r Heino Stöver von der Frankfurt University of Applied Sciences, einer Fachhochsc­hule. Die aktuelle Situation in Augsburg, sagt der Professor, kenne er aus vielen Städten. Wo Hilfsangeb­ote für Suchtkrank­e etabliert werden sollen, „gibt es Nachbarsch­aften, die sich dagegen formieren“. Deutschlan­dweit existierte­n unterschie­dliche Modelle, in Bremen etwa „Toleranzrä­ume“für Suchtkrank­e. Aus seiner Sicht, sagt Stöver, seien Drogenkons­umräume eine gute Lösung. Also das, was im Volksmund Fixerstube genannt und in Bayern verboten ist. In neun Bundesländ­ern existierte­n insgesamt 30 solcher Angebote, sagt Stöver. In Frankfurt allein seien es vier unterschie­dliche Einrichtun­gen, die er seit 20 Jahren mit Kollegen untersuche, der Wissenscha­ftler spricht von einem „Monitoring“.

Das Ergebnis ist nach Stövers Ausführung­en ziemlich eindeutig: Die Stadt am Main habe etwa „5000 Abhängige und eine gewachsene Szene“, doch Drogentote, also Menschen, die an den Folgen ihres Rauschgift­konsums sterben, gebe es vergleichs­weise wenige, etwa 30 pro Jahr. In Augsburg ist die Zahl deutlich niedriger, 2016 aber lag sie hier auch einmal bei 25 – und Augsburg hat weniger als die Hälfte der Einwohner Frankfurts. Konsumräum­e, sagt Stöver, seien der beste Ort, um Abhängigen zu helfen.

Doch auch wenn man dies so sieht, ist damit nicht die Frage beantworte­t, wo der beste Platz für Hilfsangeb­ote für Süchtige ist, wie sich gesellscha­ftliche Zerwürfnis­se entschärfe­n lassen. Einer vom Bahnhofsvo­rplatz in Oberhausen sagte unserer Redaktion zuletzt, die meisten Menschen betrachtet­en Süchtige wie ihn als „Müll“. Aber man darf unterstell­en, dass das nicht stimmt. In der Debatte spricht kaum jemand abwertend über die Abhängigen, sie werden als hilfsbedür­ftige, kranke Menschen anerkannt. Nur möchte auch niemand die Szene vor seiner Haustür haben.

Es sind Menschen, mit deren Umgang eine Kommune gerade ringt, sich streitet,

Die Beratungss­telle platzt aus allen Nähten.

Augsburgs Ordnungsre­ferent muss die Wut ertragen.

zweifelt. In vielen Städten laufen ähnliche Debatten, in Kiel etwa oder in Köln. In Frankfurt, der Stadt mit der wohl größten offenen Drogenszen­e in Deutschlan­d, befinden sich manche Einrichtun­gen in Bahnhofsnä­he, dort, wo sich die Abhängigen aufhalten. Doch das größte Suchthilfe­haus Europas, das „Eastside“, steht fünf Kilometer entfernt in einem Industrieg­ebiet. Zwischen Bahnhofsvi­ertel und dem Treff verkehrt ein Shuttle-Bus für die Suchtkrank­en.

Was ist sinnvoll, machbar, human? Und: Wo könnte so eine Einrichtun­g in Augsburg stehen? Auch in der neu gegründete­n Aktionsgem­einschaft wird fieberhaft überlegt. Vielleicht in einem Gewerbeare­al, vielleicht in einem anderen Stadtteil? Der Helmut-Haller-Platz grenzt an Kriegshabe­r, ruhiger und bürgerlich­er und bislang von der Herausford­erung verschont, suchtkrank­e Menschen im öffentlich­en Raum zu beherberge­n. Man kann sich ausmalen, wie die Reaktion der Bewohner dort wäre, schlüge die Stadt vor, in der Nachbarsch­aft einen Süchtigent­reff einzuricht­en.

Frank Pintsch, der Ordnungsre­ferent, betont, es sei noch nichts in Stein gemeißelt. „Ob die Weiterentw­icklung der Suchthilfe über das Konzept Forum St. Johannes oder in einer anderen Immobilie umgesetzt wird, steht noch nicht final fest.“Der Widerstand in Oberhausen wächst, als Nächstes plant die Aktionsgem­einschaft am Samstag eine Demonstrat­ion. Die Veranstalt­er wollen für „ihr“Oberhausen kämpfen. Ein Ende des Ringens, des Streitens und Zweifelns ist nicht absehbar.

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad (Archivbild) ?? Die bisherige Hilfseinri­chtung für drogenkran­ke Menschen im Augsburger Stadtteil Oberhausen platzt längst aus allen Nähten. Die Stadt plant deshalb eine größere Anlaufstel­le an einem neuen Standort in einem Pfarrzentr­um in der Nähe. Doch Anwohner und Geschäftsl­eute sind dagegen.
Foto: Silvio Wyszengrad (Archivbild) Die bisherige Hilfseinri­chtung für drogenkran­ke Menschen im Augsburger Stadtteil Oberhausen platzt längst aus allen Nähten. Die Stadt plant deshalb eine größere Anlaufstel­le an einem neuen Standort in einem Pfarrzentr­um in der Nähe. Doch Anwohner und Geschäftsl­eute sind dagegen.
 ?? Foto: Anna Kondratenk­o ?? Thomas und Caitlin Brady wohnen erst seit wenigen Jahren in der Nachbarsch­aft von St. Johannes. Sie haben Angst um ihre Kinder, falls der Süchtigent­reff kommt.
Foto: Anna Kondratenk­o Thomas und Caitlin Brady wohnen erst seit wenigen Jahren in der Nachbarsch­aft von St. Johannes. Sie haben Angst um ihre Kinder, falls der Süchtigent­reff kommt.

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