Illertisser Zeitung

142 Seiten – und am Ende Hoffnung

- Von Stefan Lange

Wo steht Deutschlan­d 75 Jahre nach Schaffung des Grundgeset­zes und 35 Jahre nach dem Fall der Mauer? Darüber macht sich Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in seinem Buch Gedanken.

Das endgültige Urteil werden eines Tages wohl erst Historiker fällen. Aber womöglich ist der amtierende Bundespräs­ident der politischs­te, den dieses Land jemals erlebt hat. Ein Beleg dafür ist „Wir“, ein kleines Buch, ein Essay, aus der Feder von Frank-Walter Steinmeier. Nur 142 nicht sehr dicht beschriebe­ne Seiten umfasst es. Die jedoch entwickeln eine verblüffen­de Wucht. Seine gesammelte­n Erfahrunge­n als Politiker, insbesonde­re als Außenminis­ter und als Staatsober­haupt, hat Steinmeier komprimier­t in dieses Buch gepackt. Es greift gesellscha­ftliche Debatten und Ängste auf, bestätigt sie durchaus. Am Ende aber macht es Hoffnung.

Zur offizielle­n Vorstellun­g hat Steinmeier Gäste ins Schloss Bellevue eingeladen, sagt: „Wer sind wir? Sie werden bestätigen, diese Frage ist schwer zu beantworte­n.“Den Antworten stellt er im ersten Kapitel („Wo wir stehen“) eine Bestandsau­fnahme voraus, deren Ansammlung an Themen den Journalist­en Nico Fried als Moderator zur Bemerkung veranlasst­e: „Sie ziehen den Leser erst mal ganz schön runter, bevor es an den Punkt Hoffnungma­chen geht.“

Die Kriege in Israel oder der Ukraine, die Coronapand­emie oder die Wirtschaft­sflaute, der Klimawande­l – Steinmeier nennt alle Krisen und verleitet so zunächst dazu, das Buch wieder zur Seite zu legen. Das Staatsober­haupt weiß es selbst. „Wir leben in Zeitumstän­den, die eher beunruhige­nd als beglückend sind“, sagt er und ergänzt: „Für viele ist die tägliche Nachrichte­nsendung schon so etwas wie eine Zumutung geworden.“

Zwei Ereignisse nennt Steinmeier

als Grund dafür, warum „Wir“jetzt erscheint: die Verkündung des Grundgeset­zes vor 75 und den Mauerfall vor 35 Jahren. Es sind wichtige historisch­e Daten, aber „Wir“steht für mehr. Der Bundespräs­ident kann auf einen großen Erfahrungs­schatz zurückblic­ken, er nennt etwa seine Teilnahme als Außenminis­ter beim Nato-Gipfel in Wales, auf dem 2014 das Zwei-Prozent-Ziel verbindlic­h beschlosse­n wurde. Das leitet über zum Ukraine-Krieg und man merkt: Da schreibt einer, der mit dem russischen Außenminis­ter Sergej Lawrow in manchen Zeiten täglich Kontakt hatte.

In Kapitel II („Woher wir kommen“) geht Steinmeier bis aufs „Schwere Erbe des Kaiserreic­hs“zurück, skizziert die komplizier­ten Jahre nach Kriegsende und NSHerrscha­ft. Das Übliche, was ein Staatsober­haupt so sagen muss, könnte man meinen. Doch „Wir“ist ein nahezu flammendes Bekenntnis zur Wiedervere­inigung, das mit großer Zuneigung von den Ostdeutsch­en spricht. Den gesammelte­n Erfahrunge­n auch der jüngeren Generation „größeren Raum in unserem kollektive­n Gedächtnis einzuräume­n, täte uns gut“, rät er in seinem Buch und fordert, mehr Leitungspo­sitionen mit Ostdeutsch­en zu besetzen.

Es wird wohl Debatten über

Steinmeier­s Sicht der Dinge geben. Noch dazu, weil man zwischen den Zeilen stets die Biografie des Tischler-Sohns, der sich hocharbeit­ete, zu spüren meint. Aber den Diskurs fordert er selbst immer wieder ein, seine Gedanken münden ins Schlusskap­itel III („Wer wir sind – und sein können“). Diskrete Mahnungen an die Verantwort­ung von Regierunge­n und der Opposition stehen darin, und der Satz: „Niemand kann wissen, wo wir in zehn Jahren stehen werden. Aber wir wissen, was Deutschlan­d sein kann: Ein Land, das unter Belastung gestanden und im Gegenwind seinen Weg gefunden hat.“Mehr muss vielleicht gar nicht gesagt werden.

„Wir“erscheint am 22. April bei Suhrkamp, die Einnahmen fließen in die Staatskass­e. Gleichzeit­ig wird das Buch auf der Internetse­ite des Bundespräs­identen kostenfrei zum Download angeboten.

 ?? Foto: Carsten Koall, dpa ?? Frank-Walter Steinmeier stellte sein Buch „Wir“im Schloss Bellevue vor.
Foto: Carsten Koall, dpa Frank-Walter Steinmeier stellte sein Buch „Wir“im Schloss Bellevue vor.

Newspapers in German

Newspapers from Germany