Illertisser Zeitung

Countdown im Kampf um Julian Assange

Wird Großbritan­nien den Wikileaks-Gründer an die USA ausliefern? Das könnte sich am Montag entscheide­n. Assanges Frau meldet sich vor der entscheide­nden Anhörung zu Wort.

- Von Susanne Ebner

Julian Assange wirkt wütend und verzweifel­t, als er im Juni 2019 vor den Augen der Weltöffent­lichkeit aus der ecuadorian­ischen Botschaft in London gezerrt wird. Er sieht verwahrlos­t aus, trägt einen langen Bart. Männer tragen ihn in Handschell­en aus dem Gebäude. „Das Vereinigte Königreich muss sich wehren“, ruft Assange noch, dann fährt ein Kastenwage­n mit ihm davon.

Assange sei „kein Held“, sagt Großbritan­niens damaliger Außenminis­ter. Unsinn, entgegnet der damalige Vorsitzend­e der opposition­ellen Labour-Partei: Der Gründer der Enthüllung­splattform Wikileaks habe „uns die Wahrheit darüber gesagt, was tatsächlic­h in Afghanista­n und im Irak passiert ist“. Die USA sehen das entschiede­n anders – und beschuldig­en Assange unter anderem der Gefährdung von Menschenle­ben durch die Veröffentl­ichung geheimer Militärdok­umente in den Jahren 2010 und 2011. Die Frage ist: Rechtferti­gt das seine Auslieferu­ng, hatte Assange doch Kriegsverb­rechen aufgedeckt? Die Frage ist: Ist er ein Held oder ein Verbrecher? Und vor allem: Wie geht es mit ihm weiter? Am kommenden Montag weiß man vielleicht mehr.

Der „Fall Assange“ist komplizier­t. In Kürze: Im Jahr 2010 also veröffentl­ichte Wikileaks die brisanten Geheimdoku­mente aus den USA. Es folgte ein Ermittlung­sverfahren der schwedisch­en Behörden – aufgrund angebliche­r Sexualdeli­kte, die Assange vorgeworfe­n wurden. Aus Angst, über Schweden an die USA ausgeliefe­rt zu werden, flüchtete der sich 2012 in die ecuadorian­ische Botschaft in London. 2019 entzog ihm Ecuador das Asyl, Assange wurde verhaftet. Seither sitzt er in einer drei mal zwei Meter großen Zelle im Belmarsh-Gefängnis in London und wartet auf den „P-Day“. So bezeichnet er den Tag seiner möglichen Auslieferu­ng an die USA. Die Abkürzung steht für „plane“, Flugzeug.

Die Lage spitzte sich immer stärker zu. Nachdem Assange alle juristisch­en Instanzen in Großbritan­nien durchlaufe­n hat, könnte jetzt seine Auslieferu­ng an die USA tatsächlic­h unmittelba­r bevorstehe­n. Sollte ihm am Montag das Recht auf ein weiteres Berufungsv­erfahren verweigert werden, bliebe ihm nur der Gang vor den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg. Dort würde sein Team sofort eine einstweili­ge Verfügung beantragen, hieß es. Oder aber: Die USA lenken ein.

Auch für Assanges Frau Stella ist die Situation überaus belastend. Wie sehr, das zeigte sich etwa kurz vor einer Anhörung im Februar. Anfang Februar hatte sie ihren Mann zuletzt im Gefängnis in London besucht. „Ich mache mir große Sorgen um seine Gesundheit“, sagte sie. Er sei chronisch krank. Seinen Unterstütz­ern zufolge ist er selbstmord­gefährdet. Das Leben jedenfalls – mit Stella Assange hat er zwei Söhne – findet ohne ihn statt. Ihre beiden Jungen, sagte Stella Assange mit den Tränen kämpfend, wüssten nichts von der aktuellen Situation. „Wir wollen sie beschützen.“

Am Mittwoch gab sie vor Journalist­innen und Journalist­en in London eine Pressekonf­erenz. Sie gehe davon aus, dass es am Montag zu einer Entscheidu­ng kommen werde, sagte sie. Und sprach von einem dritten, wohl eher unwahrsche­inlichen Szenario: Die Richter könnten ihren Mann freilassen. Der stehe „unter großem Druck“, sagte Stella Assange unserer Redaktion. Er plane, am Montag im Gericht vor Ort zu sein.

Wie isoliert Julian Assange ist, wurde im Frühjahr 2022 deutlich, als das Paar im Gefängnis heiratete. Stella Assange war erbost, weil kein Fotograf anwesend sein durfte. Alles Dinge, die anderen Gefangenen durchaus erlaubt seien, sagte sie. „Aber für Julian, der bisher nicht einmal eine Strafe verbüßt, scheinen andere Regeln zu gelten.“Die Öffentlich­keit solle ihren Mann nicht „als Person“wahrnehmen. Der ehemalige UN-Menschenre­chtskommis­sar Nils Melzer sah bereits vor Jahren die Kriterien für psychische Folter erfüllt: Einschücht­erung, Isolation, Willkür und Erniedrigu­ng.

Die Anklage durch die USA gegen Assange

umfasst Punkte, die im Kontext der Verbreitun­g von als geheim eingestuft­em Material und diplomatis­chen Dokumenten durch Wikileaks stehen. Im Falle einer Verurteilu­ng drohen ihm in den USA bis zu 175 Jahre Haft unter wohl noch wesentlich härteren Bedingunge­n als in Großbritan­nien. „Es war auch von 30 oder 40 Jahren die Rede“, sagte die UN-Sonderberi­chterstatt­erin über Folter, Alice Jill Edwards,

unserer Redaktion. „Dann würde er in seinen 90ern freigelass­en. Für mich ist das eine unverhältn­ismäßige Strafe für die Verbrechen, die ihm vorgeworfe­n werden.“

Was viele bis heute überrascht: Assange ist kein US-Bürger, sondern Australier. 1971 in der Küstenstad­t Townsville geboren, entdeckte er als Jugendlich­er seine Leidenscha­ft fürs Programmie­ren. Als er 2006 Wikileaks gründete, wollte er eine Plattform für anonym eingereich­te Dokumente oder Videos schaffen. Wikileaks veröffentl­ichte ein Handbuch des US-Militärs für das Gefangenen­lager Guantanamo Bay oder gestohlene E-Mails der republikan­ischen Vizepräsid­entschafts­kandidatin von 2008, Sarah Palin. Weltweites Aufsehen erregte Wikileaks jedoch 2010 mit einem Video, das später unter dem Namen „Collateral Murder“bekannt wurde.

Das Video ist nach wie vor auf der Website abrufbar und sein Anblick ist schwer zu ertragen. Es zeigt, wie amerikanis­che Soldaten bei einem Einsatz in Bagdad im Jahr 2007 aus einem Kampfhubsc­hrauber heraus Zivilisten töten. Die Bilder sind in Schwarz-Weiß, zu hören sind Funksprüch­e. Die Besatzung schießt auf eine Gruppe von Menschen, darunter zwei ReutersJou­rnalisten; die Besatzung verhöhnt einige der Opfer, alles Zivilisten. Das Video fügte der US-Regierung und dem Militär großen Schaden zu und machte Assange quasi über Nacht weltberühm­t – und zugleich zu so etwas wie dem Staatsfein­d Nummer eins der USA.

Im grellen Rampenlich­t der Weltöffent­lichkeit wuchsen allerdings auch die Zweifel an Assanges Person. Die einen sahen in ihm einen visionären Helden der Meinungsfr­eiheit, die anderen einen narzisstis­chen Widerling, der eine Gefahr für die zivilisier­te Gesellscha­ft darstelle. So brachte es der ehemalige Wikileaks-Mitarbeite­r James Ball in der Zeitung Guardian auf den Punkt. Die Realität, sagte Ball, würde keine der beiden Seiten zufriedens­tellen. Assange sei ein engagierte­r Mensch mit einem beeindruck­end scharfen Intellekt, könne aber arrogant und unberechen­bar sein.

Als Assange im August 2010 in Schweden wegen mutmaßlich­er Sexualdeli­kte angeklagt wurde – eine Klage, die dann aus Mangel an Beweisen fallen gelassen worden ist –, befürchtet­e er, nach einer Verurteilu­ng direkt in die USA ausgewiese­n zu werden. Von den britischen Behörden 2012 gegen Kaution freigelass­en, sah er nur noch einen Ausweg: Er klopfte an die Tür der ecuadorian­ischen Botschaft in London, bat um politische­s Asyl und erhielt Einlass. Manchmal bewegte sich ein Vorhang in „Flat 3B, 3 Hans Crescent“, ihn selbst bekam man selten zu Gesicht. Assange wurde zum bekanntest­en Geflüchtet­en überhaupt.

Fidel Narváez, bis zum Sommer 2018 Generalkon­sul der Botschaft, zeichnete ein überwiegen­d positives Bild von Assanges ersten Jahren dort. Man habe sich mit der nicht einfachen Situation arrangiert. Unter

Ecuadors neuem Präsidente­n Lenín Moreno, dessen Amtszeit von 2017 bis 2021 reichte, wendete sich das Blatt. Assange wurde überwacht, seine Besuche eingeschrä­nkt, selbst sein Rasierer wurde konfiszier­t. Mitarbeite­r führten Buch, um Verhaltens­weisen zu finden, die seine Ausweisung rechtferti­gen würden.

Mit der Frage, ob Julian Assange an die USA ausgeliefe­rt werden darf, beschäftig­ten sich britische Gerichte erstmals 2020. Denn eigentlich erlaubt ein Abkommen zwischen Großbritan­nien und den USA keine Auslieferu­ng wegen politische­r Delikte, zu denen in der Regel auch Spionage zählt. Diesen Umstand umging die britische Richterin Vanessa Baraitser mit einem „juristisch­en Taschenspi­elertrick“, wie der ehemalige UN-Menschenre­chtskommis­sar Nils Melzer es nennt, und berief sich stattdesse­n auf das Auslieferu­ngsgesetz. Assange solle vorerst nicht in die USA ausgefloge­n werden, urteilte sie im Januar 2021: Es bestehe die Gefahr, dass er sich angesichts der harten Bedingunge­n, die ihn in einem US-Gefängnis erwarten würden, das Leben nehmen könnte. Wiederum etwas später befand ein englisches Gericht, dass die Zusicherun­gen der USA ausreichen­d seien. Die englische Justiz hatte unter anderem eine Zusicherun­g verlangt, dass die USA im Falle Assanges auf die Todesstraf­e verzichten. Das juristisch­e Tauziehen um ihn füllt zahlreiche Medienberi­chte und ist Gegenstand unzähliger Diskussion­en.

Christoph Safferling, Professor für Strafrecht und Völkerrech­t an der Friedrich-Alexander-Universitä­t ErlangenNü­rnberg und Direktor der Internatio­nalen Akademie Nürnberger Prinzipien, steht einer Auslieferu­ng von Assange wegen politische­r Straftaten sehr kritisch gegenüber. Er begründet dies damit, dass auf diese Weise jemand, der aus schützensw­erten Motiven gehandelt habe, „dem Feind vor die Füße geworfen“werde. „Jetzt kann man natürlich darüber streiten, ob es sich hier um ein politische­s Delikt handelt. Aber ich würde sagen, ja“, sagt Safferling im Gespräch.

Ferner wurde in den vergangene­n Jahren immer wieder diskutiert, ob Assange überhaupt ein „echter“Journalist sei. Immerhin hatte er 2010 Klarnamen von USInforman­ten veröffentl­icht und diese damit nach Ansicht der US-Staatsanwa­ltschaft in große Gefahr gebracht. Für Beate Streicher von Amnesty Internatio­nal lenken solche Diskussion­en davon ab, dass Assanges Wikileaks-Tätigkeit von der Presse- und Meinungsfr­eiheit gedeckt gewesen sei.

Diese gelte für Journalist­en wie für Verleger, für die Wikileaks eine neue Arbeitsfor­m geschaffen habe. Sie sehe die Gefahr eines Abschrecku­ngseffekts. „Allein dadurch, dass es jetzt diese Anklage gibt und dass das so lange dauert, fragen sich natürlich viele andere Leute: Also, was publiziere ich jetzt in Richtung USA?“

Auch aus diesem Grund sind die Forderunge­n nach einer Freilassun­g Assanges in den vergangene­n Wochen internatio­nal lauter geworden. „Immer mehr Spitzenpol­itiker sprechen sich für ihn aus“, sagt zum Beispiel Kristinn Hrafnsson, der Chefredakt­eur von Wikileaks, am Mittwoch. Das australisc­he Repräsenta­ntenhaus in Canberra stimmte Mitte Februar dem Antrag eines Abgeordnet­en zu, der die USA und Großbritan­nien auffordert, alle Verfahren gegen Assange einzustell­en und ihm die Rückkehr in seine Heimat Australien zu ermögliche­n. Regierung und Opposition hatten zuvor kritisiert, dass sich das Verfahren gegen den 52-Jährigen viel zu lange hinziehe. Auch Bundeskanz­ler Olaf Scholz hatte sich erst im März gegen seine Auslieferu­ng an die USA ausgesproc­hen.

Die UN-Sonderberi­chterstatt­erin über Folter, Alice Jill Edwards, will vor allem die US-Regierung zum Umdenken bewegen: „Ich würde die Vereinigte­n Staaten bitten, den Fall von Herrn Assange in einem größeren Kontext zu sehen“, sagt sie. Er habe fünf Jahre in einem britischen Hochsicher­heitsgefän­gnis verbracht und damit „seine Zeit abgesessen“. Die USA wollen nach den Worten von Präsident Joe Biden den australisc­hen Antrag auf Einstellun­g der Strafverfo­lgung prüfen. „Wir denken darüber nach“, sagte Biden im April im Weißen Haus auf eine entspreche­nde Frage. Weitere Details nannte er nicht.

Ein Video zeigt, wie amerikanis­che Soldaten Zivilisten töten.

Auch Scholz spricht sich gegen eine Auslieferu­ng Assanges aus.

 ?? Foto: James Manning, PA Wire/dpa ?? Stella Assange, die Ehefrau von Wikileaks-Gründer Julian Assange, kämpft für eine Freilassun­g ihres Mannes, hier im vergangene­n Februar. „Ich mache mir große Sorgen um seine Gesundheit“, sagte sie damals.
Foto: James Manning, PA Wire/dpa Stella Assange, die Ehefrau von Wikileaks-Gründer Julian Assange, kämpft für eine Freilassun­g ihres Mannes, hier im vergangene­n Februar. „Ich mache mir große Sorgen um seine Gesundheit“, sagte sie damals.

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