Das „fliegende Kabinett“mischte die Szenerie auf.
den Schweizer Bergen dauern. Aber wer den Kanzler hier nur hemdsärmelig in der „Sommerfrische“sah, wie man damals sagte, sollte sich täuschen.
Politik war für das Arbeitstier Adenauer immer. Entweder spielte sie gerade in Nordrhein-Westfalen, wo sich sein innerparteilicher, dem christlichen Sozialismus geneigter Gegner Karl Arnold anschickte, eine neue Regierung zu bilden, oder sie tobte als heißer Konflikt in Korea, wo der kommunistische Norden den Süden überfallen hatte, was einen Dritten Weltkrieg befürchten ließ. Es war für den Kanzler, der im Kabinett dafür berüchtigt war, alles unter seiner Kontrolle halten zu wollen, nicht daran zu denken, die Bonner Stallwache in die Hände des Vizekanzlers und
FDP-Chefs Franz Blücher zu legen. Der schielte auf den Stuhl des Außenministers – ein Amt, das Adenauer selbst ausfüllte.
Blücher hatte sich erhofft, während des Urlaubs des „Alten“, wie man Adenauer ehrfürchtig nannte, im Vize-Amt seine Kontur zu schärfen. Doch jener hinterließ ihm vor der Abreise einen detaillierten Brief, der dieses Ansinnen zunichtemachte, wie AdenauerBiograf Hans-Peter Schwarz schreibt. Demnach bemerkte der Kanzler, es sei in Anbetracht der „außerordentlich gespannten Lage“nicht möglich, sich „während dieser Zeit ganz von den Regierungsgeschäften zurückzuziehen“. Er werde daher ein „kleines Büro, dem die Herren Ministerialrat Dr. Rust und Oberregierungsrat
Ostermann angehören, mit nach Bürgenstock nehmen“. Dort leistete auch Adenauers Privatsekretärin Lucie Hohmann-Köster ihre Dienste. Das Kanzleramt war vom Palais Schaumburg auf den Bürgenstock umgezogen. Für die familiäre Umrahmung des Witwers Adenauer sorgten dessen Töchter Lotte und Ria.
In der Berliner Republik wäre ein mobiles Kanzleramt kaum denkbar. Wenn Olaf Scholz wandern geht, übernimmt Robert Habeck. Adenauer ging autokratisch vor und behielt alle wichtigen Fäden in der Hand. So auch die brisanten Verhandlungen um den Schuman-Plan, den der gleichnamige französische Außenminister vorgelegt hatte, um das Fundament einer europäischen Einigung zu legen. So pendelte Adenauers Unter-Außenminister Herbert Blankenhorn zwischen Bonn, Paris und dem Bürgenstock, um den Chef auf dem Laufenden zu halten. Weiterer Gast aus Bonn: Bundespräsident Theodor Heuss, der privat anreiste. Adenauer selbst hatte gute Gründe, seine Residenz über dem Vierwaldstättersee aufzuschlagen. Da gab es zunächst die politische Verbindung zwischen Bonn und Bern. Die Schweiz war nach dem Zweiten Weltkrieg eines der ersten Länder, das die Beziehungen zu Deutschland normalisiert und wieder intensiv zu pflegen begonnen hatte. Dass der große Nachbar noch wenige Jahre zuvor von Nazis beherrscht wurde, stellte kein Problem dar. Man sah die Dinge pragmatisch.
Dazu kam eine persönliche Neigung Adenauers, der schon in den 20er-Jahren mehrmals mit seiner Frau Auguste („Gussie“) und den noch jugendlichen Kindern Konrad, Max und Maria aus seiner ersten Ehe mit Emma (geborene Weyer) im Kanton Wallis Urlaub gemacht hatte. Das Bergstädtchen Chandolin im Val d’Anniviers bot eine im Vergleich zum Bürgenstock bescheidene Unterkunft ohne fließendes Wasser. Die zahlreichen Koffer der Familie des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Adenauer mussten von zwölf Mauleseln auf 2000 Meter Höhe bergan geschleppt werden. Auf dem steilen Anstieg von der Talstation ging es nur zu Fuß weiter.
Hoch oben war Stille garantiert. Das Gästebuch der Stadt verzeichnete genossen hat. Über dem PalaceHotel wehte neben der Schweizerfahne und Schwarz-Rot-Gold die Flagge Israels. Der andere Gast war Staatspräsident Chaim Weizmann.
„Die beiden gehen einander aus dem Weg“, schreibt Hans-Peter Schwarz. Denn ein Treffen wäre äußerst brisant gewesen und in Israel so kurz nach dem Holocaust kaum gebilligt worden. Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis es im März 1960 zwischen Adenauer und Israels erstem Regierungschef David Ben Gurion zum legendären Treffen im Hotel Waldorf Astoria in New York kam – dem Beginn einer Freundschaft, die bis zu Adenauers Tod 1967 währen sollte.
Der praktizierende Katholik Adenauer suchte dagegen Inspiration in der Einsiedelei des Schweizer Nationalheiligen Niklaus von Flüe (1417–1487) bei der Ortschaft Flüeli-Ranft im Melchtal. So wie Adenauer zu Niklaus pilgerte, gingen die Besucher auch 1951 zum Kanzler. Der DGB sandte eine Delegation und 1952 die Pfadfinder eine Abordnung in Lederhosen. Auch die Unionsfraktionsspitze fand sich ein. Der Kanzler kam 1952 letztmals zum Bürgenstock. Gegenwind frischte auf. Die Schweizer Presse ließ sich über den deutschen Politrummel kritisch aus. 1953 verlegte Adenauer den Regierungssitz in ein nicht weniger traditionsreiches Hotel: die Bühlerhöhe bei Baden-Baden.