Illertisser Zeitung

Hat die Menschheit nichts gelernt, Herr Posselt?

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Kriege treiben Millionen Menschen in die Flucht. Auch die Sudetendeu­tschen mussten einst ihre Heimat verlassen. Bernd Posselt setzt sich seit Jahrzehnte­n für Verständig­ung ein. Was ihm Hoffnung macht.

Herr Posselt, der 74. Sudetendeu­tsche Tag in Augsburg beginnt am Freitag. Wenn wir auf die Welt blicken, sehen wir eine Vielzahl von Kriegen und Konflikten mit Millionen von Menschen, die auf der Flucht sind. Hat die Menschheit nichts gelernt?

Bernd Posselt: Trotz der schrecklic­hen Kriege glaube ich schon, dass die Menschheit dazugelern­t hat. Im Ersten Weltkrieg hat sich das alte Europa durch Nationalis­mus selbst zerstört. Die Antwort gab damals ein junger Mann aus Böhmen: 1922 gründete Richard Coudenhove-Kalergi die PaneuropaU­nion, die die Idee eines modernen, einigen Europas entwarf. Als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg gelang immerhin die europäisch­e Einigung im Westen, im freien Teil Europas. Sie wurde getragen von sehr vielen Sudetendeu­tschen und Heimatvert­riebenen.

Generation, die Flucht und Vertreibun­g noch erlebt hat, wird immer kleiner. Wie reagiert Ihr Verband darauf?

Posselt: Als Sprecher der sudetendeu­tschen Volksgrupp­e kann ich sehen, dass Gott sei Dank immer mehr jüngere Leute zu uns kommen und Verantwort­ung übernehmen. Wir binden die Jüngeren ganz gezielt ein. Da denke ich insbesonde­re an die grenzübers­chreitende Zusammenar­beit mit der Tschechisc­hen Republik, bei der wir auch die digitalen Möglichkei­ten nutzen. Unser soziales Netzwerk sudeten.net ist sehr gefragt, es gibt Tausende von Zugriffen, und wir gewinnen dadurch viele Menschen aus den nachwachse­nden Generation­en. Auch jetzt in Augsburg richten sich viele Veranstalt­ungen an junge Sudetendeu­tsche. In Bayern hat rund ein Viertel der Bevölkerun­g sudetendeu­tsche Wurzeln – eine gewaltige Ressource, die wir noch besser nutzen wollen.

Noch vor wenigen Jahrzehnte­n gab es in den Vertrieben­enverbände­n Stimmen, denen das Wort

„Versöhnung“kaum über die Lippen ging. Jetzt steht das Treffen in Augsburg unter dem Motto „Sudetendeu­tsche und Tschechen – gemeinsam für Europa“. Wie schwer war dieser Bewusstsei­nswandel?

Posselt: Es ist natürlich für nachgebore­ne Menschen leichter, die Versöhnung und Verständig­ung voranzutre­iben als für die, die persönlich schweres Leid erfahren haben. Anderersei­ts gibt es sehr viele großartige ältere Menschen, die damals Opfer von Verbrechen geworden sind und heute Gymnasien in der Tschechisc­hen Republik besuchen und dort als Zeitzeugen auftreten. Es gibt den beeindruck­enden Satz meines 2016 verstorben­en jüdischen Freundes Max Mannheimer, der in zwei Konzentrat­ionslagern saß und dennoch gesagt hat: „Ich kann nicht hassen.“

Kirchen, Verbände und Vereine beschäftig­en sich mit der Frage, wie man mit Mitglieder­n oder Anhängern der in Teilen rechtsextr­emen AfD umgehen soll. Welche Linie verfolgt die Sudetendeu­tsche Landsmanns­chaft?

Posselt: Eine sehr klare. Wir waren unter den Ersten, die gesagt haben, dass die Mitgliedsc­haft in der Landsmanns­chaft und in extremisti­schen Gruppierun­gen wie der AfD sich ausschließ­en. Diese Leute haben bei uns nichts verloren, ihre Mandatsträ­ger wurden nie zu unseren Sudetendeu­tschen Tagen eingeladen. Ich kann nicht ausschließ­en, dass sich einer einschleic­ht, aber es gibt ein Hausverbot. Die AfD hat schon vor Jahren einen Stand für unser Pfingsttre­ffen beantragt. Wir haben das abgelehnt.

Dass es in Tschechien und Deutschlan­d Gruppen gibt, die mit der Idee eines vereinten Europas nichts anfangen können, ist doch aber Realität.

Posselt: Eigentlich müssten ja die deutschen Nationalis­ten und die tschechisc­hen Nationalis­ten Gegner sein. Aber im Grunde vereinigen sie sich gegen alle Europäer auf beiden Seiten.

Die Europawahl steht unmittelba­r bevor. Mussten Sie nicht viele der Sudetendeu­tschen erst davon überzeugen, dass Europa unsere Zukunft ist?

Posselt: Nein, überhaupt nicht. Ich habe seit 1976 an jedem Sudetendeu­tschen Tag teilgenomm­en. Mich hat der europäisch­e Geist dort überzeugt. Die Sudetendeu­tschen haben das Ziel der Wiedervere­inigung Europas verfolgt, als viele das für eine Utopie hielten.

Ihnen liegt die Verständig­ung mit Tschechien besonders am Herzen. Das war und ist nicht immer einfach.

Posselt: Der tschechisc­he Präsident Václav Havel hat in seiner

Amtszeit, die 2003 endete, ganz starke Signale der Versöhnung in unsere Richtung gesendet. Doch damals folgte ihm die Mehrheit der tschechisc­hen Parteien nicht. Danach folgten 20 schwierige Jahre. Die Nachfolger Havels haben seinen Kurs verlassen. Also haben wir die Verständig­ung auf der unteren Ebene intensivie­rt.

Wie ist der Stand heute?

Posselt: Staatspräs­ident Petr Pavel hat den Faden Havels seit seiner Amtsüberna­hme wieder aufgenomme­n. Er war bereits dreimal in Bayern seit seinem Amtsantrit­t im letzten Jahr und hat sich in einzigarti­ger Weise für Versöhnung und Partnersch­aft eingesetzt. Eine völlig neue, sehr erfreulich­e Entwicklun­g ist, dass ihm jetzt eine große Mehrheit der Tschechen und der tschechisc­hen Parteien folgt.

Welche Rolle soll die Landsmanns­chaft in Zukunft spielen?

Posselt: Die große Aufgabe wird es sein, als eine der beiden Sprachgrup­pen oder Völker der böhmischen Länder und als vierter Stamm Bayerns die uns durch die Geschichte zugewiesen­e Brückenfun­ktion wahrzunehm­en. Wir müssen unsere kulturelle Identität gemeinsam mit den Tschechen, die über eine ähnliche Identität verfügen, bewahren sowie lebendig weiterentw­ickeln und uns für Menschenre­chte und den Schutz von Minderheit­en einsetzen.

Interview: Simon Kaminski

 ?? Fotos: Sudetendeu­tsches Museum München, Karl-Josef Hildenbran­d, dpa ?? Der Bollerwage­n, die Kleider am Leib, mit denen viele Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg die gefährlich­e und beschwerli­che Flucht aus der Heimat antraten. Zu finden im Sudetendeu­tschen Museum München.
Fotos: Sudetendeu­tsches Museum München, Karl-Josef Hildenbran­d, dpa Der Bollerwage­n, die Kleider am Leib, mit denen viele Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg die gefährlich­e und beschwerli­che Flucht aus der Heimat antraten. Zu finden im Sudetendeu­tschen Museum München.

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