Illertisser Zeitung

Ein Dilemma – auch für Deutschlan­d

- Von Margit Hufnagel

Der Chefankläg­er des Internatio­nalen Strafgeric­htshofs beantragt Haftbefehl­e gegen die Führung Israels und der Hamas. Das sorgt für politische Schockwell­en. Welche Folgen die juristisch­e Verfolgung Netanjahus haben könnte.

Der Anspruch ist nicht weniger, als die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Politische und militärisc­he Machthaber sollen nicht mehr davonkomme­n mit ihren Verbrechen gegen das Völkerrech­t. Nicht die Kleinen, sondern die ganz Großen nehmen die Richter in Den Haag seit nunmehr 26 Jahren ins Visier. Der Internatio­nale Strafgeric­htshof (IStGH) gilt als eine der wichtigste­n Einrichtun­gen im Kampf gegen Kriegsverb­rechen. „Diese Institutio­n ist ein Wunder“, hatte der erste Chefankläg­er Luis Moreno Ocampo einmal gesagt. Mehr als 40 Haftbefehl­e wurden seit dem Jahr 2002 ausgestell­t – bald könnte sich auch der israelisch­e Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu in die Liste der Schande einreihen. Chefankläg­er Karim Khan hat Antrag auf Haftbefehl gestellt. Ob der tatsächlic­h erlassen wird, müssen nun die Richterinn­en der Vorverfahr­enskammer des IStGH entscheide­n.

Die Wahrschein­lichkeit, dass die Richterinn­en Iulia Motoc, Reine Alapini-Gansou und Socorro Flores Liera dem Antrag von Khan folgen, ist relativ groß. Ministerpr­äsident Netanjahu und dem israelisch­en Verteidigu­ngsministe­r Joav Galant werden unter anderem vorgehalte­n, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführ­ung sowie für willkürlic­he Tötungen und zielgerich­tete Angriffe auf Zivilisten verantwort­lich zu sein. Den Hamas-Führern wirft Khan unter anderem „Ausrottung“sowie Mord, Geiselnahm­e, Vergewalti­gungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlich­keit vor.

So umfassend der Anspruch des IStGH auch ist, so offensicht­lich bleibt seine Schwäche: Israel ist – wie auch die USA, China und Russland – nicht Mitglied des Gerichtsho­fes und deshalb nicht verpflicht­et zu kooperiere­n. Vollzogen werden könnte der internatio­nale Haftbefehl nur dann, wenn sich Netanjahu in einem Land aufhält, das die Den Haager Institutio­n anerkennt – 124 Staaten haben das getan, unter anderem Deutschlan­d. Für die Regierung in Berlin würde sich ein gewaltiges Dilemma auftun: Auf der einen Seite wäre die Bundesrepu­blik verpflicht­et, Galant und Netanjahu festzunehm­en, sollten sie deutschen Boden betreten. Staatsbesu­che wären also kaum mehr möglich – auch, weil ein Haftbefehl nicht verjährt. Auf der anderen Seite ist gerade die Bundesregi­erung im Umgang mit Israel um größtmögli­ches diplomatis­ches Fingerspit­zengefühl bemüht. Immer wieder hatte Bundeskanz­ler Olaf Scholz in den vergangene­n Wochen betont, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräso­n sei.

Sollte Deutschlan­d einen möglichen Haftbefehl ignorieren und damit gegen internatio­nale Verträge verstoßen, müsste die Bundesregi­erung zwar kaum mit weitreiche­nden Sanktionen rechnen, würde sich aber dem Vorwurf aussetzen, mit zweierlei Maß zu messen. Im Jahr 2015 etwa hatte Südafrika den vom IStGH gesuchten damaligen sudanesisc­hen Machthaber Omar al-Baschir unbehellig­t ausreisen lassen und musste sich scharfe Kritik unter anderem aus Berlin gefallen lassen. Auch in einem anderen Fall pocht die Bundesregi­erung auf die Umsetzung eines Haftbefehl­s: Den Haag hat den russischen Präsidente­n Wladimir Putin wegen der Verschlepp­ung von ukrainisch­en Kindern zur Fahndung ausgeschri­eben. Sollte sich Berlin im Fall Israels nicht an die Vorgaben halten, wäre das zumindest Gift für die eigene Reputation – zumal Paris dem IStGH bereits den Rücken gestärkt hat. „Frankreich unterstütz­t den Internatio­nalen Strafgeric­htshof, seine Unabhängig­keit und den Kampf gegen Straflosig­keit in alzu len Situatione­n“, teilte das französisc­he Außenminis­terium mit. Das Leiden sowohl der Israelis als auch der Palästinen­ser müsse beendet werden.

Unabhängig davon, welche juristisch­en Schritte unternomme­n werden, ist der Schaden für Israel immens. Das Land nimmt für sich in Anspruch, über eine der moralisch integerste­n Armeen der Welt verfügen und im Gazastreif­en einen „gerechten Krieg“zu kämpfen. Der Einwurf aus Den Haag trifft das Land deshalb gleich doppelt an einer empfindlic­hen Stelle. „Israel sieht sich selbst in einem existenzie­llen Abwehrkamp­f gegen die Hamas“, sagt Stephan Stetter, Nahost-Experte an der Universitä­t der Bundeswehr in München. Der Anschlag vom 7. Oktober hat ein schweres Trauma in der Gesellscha­ft hinterlass­en. Auch deshalb werde vieles, was im Gazastreif­en geschehe, ausgeblend­et. „Die Vorwürfe aus Den Haag zeigen, dass der israelisch­en Regierung ihre Kriegsführ­ung vollkommen entglitten ist“, sagt Stetter. „Israel wird zum Opfer seiner eigenen verfehlten Politik.“

Benjamin Netanjahu habe sich nie auf eine Nachkriegs­lösung eingelasse­n, das militärisc­he Vorgehen sei nicht in einen politische­n Plan eingebette­t worden. „Ein wichtiges Mittel, die Hamas zu bekämpfen, wäre eine alternativ­e palästinen­sische politische Kraft, die in der Lage wäre, den Gazastreif­en zu regieren“, sagt der Experte. Stattdesse­n würden zumindest die rechtsradi­kalen Kräfte innerhalb der israelisch­en Regierung ganz offen das Ziel propagiere­n, die Palästinen­ser aus dem Gazastreif­en vertreiben und das Gebiet wieder durch israelisch­e Siedler besetzen zu wollen. Die Vorwürfe von Chefankläg­er Khan seien auch deshalb nicht so einfach vom Tisch zu wischen.

Doch die israelisch­e Regierung habe sich angewöhnt, emotionalm­oralisch statt nüchtern und sachlich zu argumentie­ren. Am Dienstag nannte Netanjahu Karim Khan einen „der großen Antisemite­n der Moderne“. Er verglich Khan sogar mit den NS-Scharfrich­tern und warf ihm „Blutverleu­mdung“vor – dieser auch als Ritualmord­legende bekannte Begriff bezieht sich auf antisemiti­sche falsche Anschuldig­ungen gegen Juden seit dem Mittelalte­r. „Das deutet darauf hin, dass sich Israel weder juristisch noch politisch-diplomatis­ch wirklich den Erforderni­ssen stellt“, sagt Stetter. Auch das sei ein Grund, warum sich nun der Strafgeric­htshof einschalte. Denn der wird nur dann tätig, wenn eigene nationale Strafverfo­lgungsbehö­rden nicht dazu in der Lage oder willens sind, entspreche­nde Verbrechen zu ahnden.

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Foto: ANP/afp Blick in eine Zelle des Internatio­nalen Strafgeric­htshofs Mitte der 90er. Gegen den israelisch­en Ministerpr­äsidenten Netanjahu wurde ein Haftbefehl beantragt.

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