Illertisser Zeitung

Roman von Iris Wolff

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Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Man hatte keine Ahnung, unter welcher Gnade man lebte, wenn man gerade nicht verlassen wurde.

Bene packte einen Rucksack (von seinen Büchern nahm er nur den Rom-Reiseführe­r mit), fuhr spätabends mit dem Zug nach Potsdam und per Anhalter weiter zu einer Raststätte an der Transitaut­obahn. Dort kletterte er in einen unverschlo­ssenen LKW, versteckte sich in einem Karton mit Spielzeug – und kam so in den Westen. Grenzer

hatten die Ladefläche kontrollie­rt, und sie wären bis zu ihm gekommen, hätte sich nicht ihr Spürhund über ausgepackt­e Waren erbrochen, was zu Streit und vorzeitige­m Abbruch der Durchsuchu­ng führte. Erst in diesem Moment wurde Bene bewusst, in welche Gefahr er sich und den LKW-Fahrer gebracht hatte. Seine Flucht war eine Sache von mehreren, rasch getroffene­n Entschlüss­en gewesen. Entschlüss­e waren fortan kein Hoheitsrec­ht mehr von Lothar.

Auch wenn man später mit seiner Jugendlekt­üre nichts mehr zu tun haben wollte – Angst hatte man eben nur, wenn man mit sich uneins war.

Das ist einer, der nur schaut, war sein erster Gedanke. Kommt in den Laden, stöbert herum, befühlt die Einbände, liest hinein (ein Warten auf die zufällige Verführung einiger Sätze), sieht sich Klappentex­te an, Autorenpor­träts. Wirft zuletzt einen Blick zur Ladentheke und geht mit einem höflichen Gruß. Gekauft hatte er nie etwas, gesagt auch nicht. Aber schön war er. Immerhin einer, dem man gerne zusieht, dachte Bene.

Dem man gern bei einigem zusehen würde.

Vielleicht würde der Herumstöbe­rer etwas klauen, wenn man ihn aus den Augen ließ – was Bene jedoch nur vorgab. Er konnte beschäftig­t tun und dabei etwas oder jemanden genau beobachten. Eine Fähigkeit, die immer nützlich gewesen war. Er nannte das sein Fritz-Egner-Gesicht. Es war gut, wenn man sich verschiede­ne Gesichter zulegte, klüger, als sich nur auf jenes zu verlassen, das einem mitgegeben worden war und mit dem man das größte Pech haben konnte. Auch wenn man sich das natürlich nicht gern eingestand. Vor allem Männer nicht.

Der Typ musste am Hafen arbeiten. Er trug Gummistief­el und Regenjacke. Außerdem roch er nach Fisch. Fischgeruc­h zwischen Büchern macht sich nicht besonders gut. Aber des Ladens verweisen konnte er ihn auch nicht, er war immerhin ein potentiell­er Kunde. Außerdem sah er zu gut aus. Ein minder attraktive­r Mann mit Fischgeruc­h hätte hier nicht so lang herumstöbe­rn dürfen.

Vielleicht richte ich eine Box für Ladenhüter ein, dachte Bene. Eine Mark das Buch.

Und tatsächlic­h, ein paar Tage später schob ihm der Typ E.T.A. Hoffmanns „Goldenen Topf“über die Theke, mitsamt Münze.

Bene gab jeden Herbst ein Fest im Buchladen und sprach, ehe er darüber nachgedach­t hatte, eine Einladung aus.

„Warum?“

Bene war so überrascht von dieser Rückfrage, dass er ins Stottern geriet. Dieser Typ hatte soeben sein erstes Buch gekauft. Noch dazu eines aus der Eine-Mark-Kiste. Was für eine bescheuert­e, ganz und gar offensicht­liche Anmache. „Danke.“

Es klang nicht wie eine Zusage. Trotz der Kälte öffnete Bene ein Fenster. Er dachte an seine erste Zeit in Westberlin, bevor er (da er lange genug in einer Stadt mit einer Mauer gelebt hatte) zu seiner Tante ans Meer übersiedel­te. Bene war bei einem Mann untergekom­men, der beruflich viel reiste. Wenn er fort war, beließ Bene in der Wohnung alles so, wie es war. Nicht einmal den Radiosende­r stellte er um, obwohl er sich aus Klassik nichts machte. Es war eine Erleichter­ung, wie ein anderer zu leben. Jemand, der einen Lieblingsr­adiosender hatte, Kakteen, ein Farbkonzep­t, jemand, der sich das Leben so und nicht anders eingericht­et hatte. Bene hielt sich mit einem Job in einer Müllsortie­ranlage über Wasser. Den Geruch wurde er auch nach Feierabend nicht los. Das ist nicht nur ein Job, das bist du dann, dachte er. Aber es war keine schlechte Arbeit. Man vertrieb sich die Zeit – erzählte Witze, reichte heimlich einen Flachmann herum, schlug Pornohefte auf, als Gruß für die weiter unten am Band. Es wusste ja keiner, dass nackte Brüste in Bene nichts auslösten.

Bene stand am Fenster, sah dem Hafenarbei­ter nach, der auf einem Fahrrad davonfuhr, und dachte: Das ist auch einer mit dem Geruch eines Lebens, von dem er nie geträumt hat.

Die Mauer fiel.

Der ganze Ostblock, Ungarn, Polen, Bulgarien, Jugoslawie­n, die ?SSR, war im Begriff auseinande­rzufallen, weil die Sowjetunio­n auf Reformen gesetzt hatte. Nur in Rumänien herrschte bleierne Ruhe.

Der Eiserne Vorhang, hieß es, war zerbrochen, und Bene dachte darüber nach, wie selbstvers­tändlich man in Metaphern lebte. Auch etwas, das über Jahrzehnte das Leben unzähliger Menschen bestimmt hatte, konnte fallen, konnte zerbrechen, und er fragte sich, ob Metaphern Erfahrunge­n verbergen oder zum Vorschein bringen. Wenn man anders darüber sprach, würde man es auch anders erleben?

Bene wurde gefragt, warum er nicht nach Berlin fuhr. 46. Fortsetzun­g folgt

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