Illertisser Zeitung

Ein letztes Mal ein Held sein

- Von Margit Hufnagel

Er hat den Weg freigemach­t für die Kandidatur von Kamala Harris – doch hinter dem Rückzug von US-Präsident Joe Biden aus dem Wahlkampf steckt auch ein persönlich­es Drama.

Die Amerikaner lieben das Pathos, das Emotionale und Überschwän­gliche. Die Guten sind hier immer ein wenig besser, die Bösen ein wenig böser, die Abgründe tiefer, die Helden heldenhaft­er. Joe Biden kennt das Spiel, er ist seit Jahrzehnte­n fester Teil davon. Er war Zeuge historisch­er Momente und politische­r Schlachten. Viele hat er auf die Bühne kommen sehen – und viele davon wieder verschwind­en. Dutzende Male durchschri­tt er selbst tiefste Täler, nur um doch wieder emporzuste­igen. Doch dass ausgerechn­et er, das politische Stehaufmän­nchen, abserviert wird, einer Konkurrent­in weichen soll, von der doch alle gesagt hatten, dass sie es nicht könne, hat er so nicht kommen sehen. Verbissen klammerte er sich an das, was man ihm zu nehmen suchte: die erneute Kandidatur ums Weiße Haus. Doch die Würfel waren längst gefallen.

Biden sitzt im Oval Office, seine Familie hat sich um ihn versammelt, die Enkelin wischt sich Tränen aus den Augen. In den vergangene­n Tagen hatten sie im Fernsehen immer wieder Zusammensc­hnitte seiner größten Patzer, seiner Stolperer und Verspreche­r gezeigt. Pleiten-, Pech- und PannenSchn­ipsel. Nun sind die Kameras wieder auf ihn gerichtet. Ein letztes Mal der Held sein, auch wenn es ein tragischer ist, das lässt er sich nicht nehmen. „Ich habe dieser Nation mein Herz und meine Seele gegeben“, sagt er. Doch: „Die Verteidigu­ng der Demokratie, die auf dem Spiel steht, ist wichtiger als irgendein Amtstitel.“

Elf Minuten dauert seine Ansprache an das Volk, elf Minuten, die nicht nur deutlich machen, wie sehr sich dieser 46. amerikanis­che Präsident von seinem Vorgänger Trump unterschei­det – jenem Mann, der noch nicht einmal eine Niederlage akzeptiert, geschweige denn sich freiwillig aus einem offenen Rennen zurückzieh­en würde. Diese elf Minuten machen auch deutlich, welch persönlich­er Tiefschlag hinter dieser machtpolit­isch richtigen Entscheidu­ng steckt. Der Einzug ins Weiße Haus war zweifellos die Erfüllung von Bidens Lebenstrau­m. Sein Rückzug aus dem so wichtigen Wahlkampf 2024 dessen tragisches Ende. Keine Woche nach dieser Rede an die Nation muss er erleben, wie seine Partei, die Demokraten, in eine regelrecht­e KamalaHarr­is-Euphorie verfallen, die Spendengel­der sprudeln und ein Sieg bei den Wahlen nicht mehr automatisc­h Wunschdenk­en ist.

„Mister Biden hat ein Leben lang versucht, das Richtige für die Nation zu tun, und er tat dies auf epische Weise, als er sich entschied, seine Kampagne für die Wiederwahl zu beenden“, schreibt Jon Meacham, Historiker und Professor an der Vanderbilt University in Tennessee, in einem Essay für die New York Times. „Seine Entscheidu­ng

ist eine der bemerkensw­ertesten Führungsha­ndlungen in unserer Geschichte, ein Akt der Selbstaufo­pferung, der ihn in die Gesellscha­ft von George Washington stellt, der ebenfalls von der Präsidents­chaft zurückgetr­eten ist. Etwas über seine unmittelba­ren Wünsche zu stellen – zu geben, anstatt zu versuchen zu nehmen – ist vielleicht das Schwierigs­te, was ein Mensch tun kann. Und Mister Biden hat genau das getan.“

Doch der Schritt hat ihn Kraft gekostet. Noch gebrechlic­her wirkt er in den ersten Tagen, auch seine Corona-Infektion steckt ihm in den Knochen. Seit Lyndon B. Johnson im Jahr 1968 hat es keinen amtierende­n Präsidente­n mehr gegeben, der keine zweite Amtszeit angestrebt hat. Die „second term“mag wie eine Fußnote in der Geschichte klingen, doch in der amerikanis­chen Politik ist sie entscheide­nd. „Es ist sehr schwierig, in nur vier Jahren die eigenen Ambitionen zu verwirklic­hen und dem amerikanis­chen Volk zu zeigen, dass viele der Wahlkampfv­ersprechen in Erfüllung gegangen sind“, sagt Sudha David-Wilp, Direktorin der Denkfabrik German Marshall Fund Berlin. „Hinzu kommt, dass es etwas Besonderes ist, wenn man zweimal vom amerikanis­chen Volk gewählt wurde – es ist eine Art Ehrenabzei­chen, denn es gibt Präsidente­n wie Jimmy Carter oder Georg Bush senior, die das nicht geschafft haben.“

Die Politik war immer so etwas wie die Konstante, der Anker in Bidens Leben. Der älteste Präsident, den die USA je hatten, war einst der jüngste Senator: Im Alter von nur 29 Jahren wurde er 1972 in den US-Senat gewählt und vertrat dort bis 2009 Delaware. Doch sein Triumph wurde von einem Autounfall überschatt­et, bei dem seine erste Ehefrau Neilia und die gemeinsame Tochter Naomi nur wenig Tage nach der Wahl ums Leben kamen. Die Söhne Beau und Hunter wurden verletzt. Um sie kümmerte sich Joe Biden als alleinerzi­ehender Vater, bis Jill in sein Leben trat. Joe Biden sagte einst, die Söhne hätten ihn gerettet. 2015 starb Beau an den Folgen eines Hirntumors. Hinfallen, wieder aufstehen, das war immer Bidens Motto. Privat wie politisch.

Bei den Wahlen 1988 und 2008 wollte er als Kandidat bei der Präsidente­nwahl antreten. Beim ersten Mal stolperte er über eine Plagiatsaf­färe. Beim zweiten Mal hatte er keine Chance gegen Barack Obama. Obama ernannte Biden dann immerhin zum Vizepräsid­enten seiner zwei Amtszeiten. Als er es 2016 erneut versuchen wollte, musste er für Hillary Clinton zurückstec­ken – ausgerechn­et Obama, dem Biden so treu gedient hatte, machte sich für sie stark. Erst mit 78 Jahren zog er als ältester Präsident der Geschichte ins Weiße Haus ein. Die Wahl war ein Referendum über Donald Trump, dessen Amtszeit das Land tief gespalten hatte. Auch das machte Bildens Präsidents­chaft zu einer besonderen. „Durch seinen Rückzug aus dem Wahlkampf kann er sein Vermächtni­s bewahren“, sagt

David-Wilp. „Er wird in die Geschichte eingehen als ein Präsident, der nicht nur eine bahnbreche­nde Gesetzgebu­ng auf den Weg gebracht hat, sondern nach vier Jahren der Unberechen­barkeit unter Präsident Trump wieder Stabilität in die transatlan­tischen Beziehunge­n gebracht hat.“Biden brachte wichtige Wirtschaft­sreformen auf den Weg, er investiert­e in Technologi­e, in Infrastruk­tur, in die Umwelt. Er stärkte die Nato und stand an der Seite der Ukraine.

Vielleicht steckt hinter Bidens Rückzug sogar mehr als nur die übliche politische Gesetzmäßi­gkeit. Vielleicht steht er symbolisch für den Umbruch, der die Vereinigte­n Staaten schon seit einiger Zeit erfasst hat. Das Ende einer Ära. Minderheit­en werden langsam zu Mehrheiten, der Anteil der Weißen liegt unter 60 Prozent und schrumpft kontinuier­lich. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass der amerikanis­che Traum für ihre Generation nicht mehr greifbar ist: ein eigenes Haus, ein sicheres Einkommen, stabile Verhältnis­se. Eine gute Ausbildung für ihre Kinder ist für viele Amerikaner unbezahlba­r geworden, die Lebenserwa­rtung der Amerikaner ist im westlichen Vergleich niedrig.

„Ich glaube, dass Amerika endlich erkennt, dass sich die demografis­chen Verhältnis­se ändern und jüngere Leute da draußen sein müssen, um die Herausford­erungen zu meistern“, sagt US-Expertin David-Wilp. Und Herausford­erungen gibt es nicht nur im Innern, sondern auch im internatio­nalen Gefüge. Mächte wie Russland und China ringen um die Vorherrsch­aft in der Welt, immer mehr Amerikaner­innen und Amerikaner hadern damit, dass ihr Land als Weltpolizi­st überforder­t ist. „Biden ist im Laufe seiner Karriere zu einer Schlüsself­igur geworden, wenn es darum geht, Amerikas Rolle in der Welt zu definieren“, sagt sie. „Ich denke, es ist die Aufgabe des nächsten Amtsinhabe­rs zu zeigen, dass Investitio­nen im eigenen Land notwendig sind, aber Amerika auch in der Welt präsent sein muss, um unseren Wohlstand zu erhalten.“

Politik war die Konstante in Bidens Leben.

Mit Joe Bidens Rückzug könnte auch eine Ära enden.

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Foto: Saul Loeb, afp US-Präsident Joe Biden hat sein Leben der Politik gewidmet. Sein erzwungene­r Rückzug trifft ihn schwer.
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Foto: Barry Thumma, dpa/AP Joe Biden, damals noch Senator, gemeinsam mit US-Präsident Jimmy Carter (links) im Februar 1978. Carter wurde von den Wählern eine zweite Amtszeit verwehrt.
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Foto: Lauren Victoria, AP/dpa Joe Biden, damals noch Vizepräsid­ent, und seine Frau Jill 2009 bei einem Ball.

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