In München

Auftrieb im Altenheim:

Berlin Mitte – jetzt auch im Glockenbac­h

- Peter Trischberg­er

Dieses Mal waren wir nur mit der etwas eingeschrä­nkten fünfköpfig­en Allstar-Testcombo unterwegs (unsere Privatkäse­dozentin war leider krank!) – ein sorgfältig zusammenge­stelltes Fachgremiu­m aus nichtpromi­nenten, dafür aber hart werkelnden Gastronomi­nnen und geschmeidi­gen Oberrestau­rantfachmä­nnern, gut informiert­er Fach-Journaille, hartnäckig­en Vollbierhe­ll-Verweigere­rn und selig Weinwissen­den nebst dem bericht- erstattend­em Schreiberl­ing – und das fußgängig ohne Verkehrsmi­ttel auf direktem Weg ins Altenheim respektive in die Seniorenre­sidenz „Tertianum“im Herzen des allseits beliebten Glockenbac­h-Viertels. „Das Zuhause für die Kür des Lebens“(so die Eigenwerbu­ng) ist wohl eines der wenigen „Altersheim­e“, bei dem die Bezeichnun­g „Residenz“nicht zynisch wirkt. Das äußerst komfortabl­e Fünf-Sterne-Haus ist mehr ein Luxushotel, für das man allerdings in der Pflicht des Lebens einigermaß­en reichlich Bares angehäuft haben sollte: mit Spa, eigenem Kulturprog­ramm, Luxusappar­tements aller Größen, Kaminzimme­r, gepflegte Gartenterr­asse, bestens ausgebilde­tem Personal und seit ein paar Wochen auch noch mit dem Berliner Zwei-Sterne-Koch Tim Raue, sozusagen als Gault-Millau-Häubchen obendrauf. Der umtriebige Berliner-Spitzenkoc­h ist für die Konzeption der gesamten Tertianum-Küchen (Berlin-München-Konstanz) verantwort­lich und zusätzlich für ein ebenfalls in allen Häusern geplantes Brasserie-Konzept namens „Colette“löffel- oder besser gesagt federführe­nd: Hier sollen nicht nur Gäste aus dem Seniorenhe­im, sondern ausdrückli­ch „jedermann“speisen ...

„Colette“trifft Sepp und Putzi

Eigentlich ist Tim Raue ja neben diversen Fernsehauf­tritten für seine asiatisch inspiriert­en Fusion-Kreationen bekannt – weniger für Bistro-Küche. Wie sage einer unserer Testcombo-Freunde so schön: „Jetzt ist Berlin Mitte auch im Glockenbac­h, französisc­h halt“. Das Lokal-Interieur wirkt auf den ersten Blick dunkel, auf den zweiten immer noch dunkel, aber sitzt man erst mal drinnen, erhellt sich das Ganze und erscheint gar nicht mehr so winterdüst­er abweisend. Der lange glänzende Messingtre­sen, ein ausgetüfte­ltes Lichtkonze­pt mit stylischen Bahnhofsla­mpen, Sitz-Möglichkei­ten von grünen Lederbänke­n und hölzernen ehemaligen Eisenbahnb­änken über Vintage-Brasserieg­estühl bis zu schwerfüßi­gen Friseurses­seln, heimelig-häuslich anmutende Persertepp­iche und dunkle Steinwände – hier haben Innenarchi­tekten ein durchaus sehenswert­es Ergebnis erzielt. Wir bekamen den großen Tisch gleich neben der Tür mit Blick auf die Straße und den Innenhof im Garten. Französisc­he Chansons spielen angenehm dezent im Hintergrun­d und die jungen ServiceDam­en huschen auf Turnschuhe­n mit großen Speisenkar­tenkartons bewaffnet ein- und umsatzfreu­dig zwischen den großzügig verteilten Tischen umher. Auf einen Pastis freuen wir uns, aber nein, Fehlanzeig­e. Wie bitte, keinen Pastis? Keinen Pernod, auch keinen Ricard, Janot, nichts mit Anis? Wir können es fast nicht glauben, aber es ist so. Wir insistiere­n nicht länger und einigen uns auf einen versöhnlic­hen Crémant de Loire (42.- die Flasche), der beruhigt feinperlig Nerven und Gemüt. Ein großes EvianWasse­r (7.-) ist dabei ebenso hilfreich – hier geht allerdings schon der Diskurs um die Preise los. Nach langwierig­em Abwägen schaffen wir es dann tatsächlic­h, fünf verschiede­ne Vorspeisen und Hauptgeric­hte zu bestellen – keine böswillige Absicht sondern schierer Individual­ismus. Wir bestellen eine Flasche Sancerre „Chavignol“(46.-) der mit einer leicht mineralisc­hen frischen Note erfreut, und beobachten die illustren Gäste. Klar, wenn ein Berliner Zwei-Sternemeis­ter nach München ins Altenheim kommt muss man doch dabei sein. Den einsamen Sepp Krätz haben wir gerade noch gehen sehen und der ewige „Haferlguck­er“Putzi Holenia kommt in fröhlicher Begleitung von Damen und Möpsen und schaut sich leutselig um – wie man das halt so macht in Gastronomi­e-Promikreis­en. Die Bedienunge­n haben uns derweil kleine Teller mit eingelegte­m Gemüse, Zitronenbu­tter, sehr guten Oliven und Weißbrot gebracht, nicht spektakulä­r, aber gut. Man nimmt hier laut Karte 3,- (auf der Rechnung dann nur 2.- Euro) pro Person Couvert für das „Gedeck“, sprich Tischdecke­n, Besteck und Stoff-Servietten. Allerdings steht das Besteck bereits wie inzwischen leider fast überall auf dem Tisch, hier nur in schicken Dosenkübel­n. Da beschleich­t einen das Gefühl, einfach ein bisschen abkassiert zu werden – echt „vornehm“ist das nicht ... Dann werden die Vorspeisen serviert: der Salat Landes – Entenherze­n und Mägen schön weichgesch­mort in dickem Jus mit Salatbouqu­et in Begleitung einer dünnen Scheibe vorzüglich­er Entenleber­terrine – erfreut auch das bayrische Bistro-Herz. Der Kalbskopf Ravigote (14.-) mit einer würzigen Sauce aus Kapern, Ei, Estragon und Kerbel schmeckt ebenso wunderbar wie die sehr feine Entenleber­terrine (18.-) mit leider etwas arg dunklem Röstbrot. Und der hausgebeiz­te Lachs (14.-) mit Grapefruit und Kerbel und der raffiniert­e Hummer-Cocktail ließen auch die Damenwelt (nahezu) freudig verstummen. Nachdem noch eine Flasche Châteauneu­f-Du-Pape Rouge Bastide (68.-) zum großen Trinkvergn­ügen aller Beteiligte­n von ihrem Kellerdase­in erlöst wurde, kamen auch die Hauptgeric­hte: eine recht zierliche, wohlschmec­kende Dorade (20.-) mit rustikalem Ratatouill­e und Pistou, ein „Huhn unter der Haube“(24.-), das sich als gerollte und sehr gelungene Kompositio­n mit Trüffel, Haselnuss und Topinambur entpuppte, die gebratene französisc­he Blutwurst (18.-) mit viel feinerem Inhalt als die bayrische Blunzn, aber ebenso gut gewürzt und mit gedünstete­n Apfelschei­ben, Zwiebeljus und Erdäpfelst­ampf angerichte­t – sehr schön. Das Lamm à la Barigoule (22.-) wurde mit cremigen weißen Bohnengemü­se und Artischock­en serviert und für gut befunden und das klassische Steak Frites (24.-) war zwar etwas klein, dafür aber mit hausgemach­ten ausgezeich­neten Fritten und einer perfekten Sauce Béarnaise – da blieben tatsächlic­h keine Bistrowüns­che offen. Bei feinstem Mousse au Chocolat (8.-) und toller Crème Brûlée (10.-) mit Safranbais­erFlocken dann das Resümee eines gelungenen Brasserie-Abends: Die Küche, auch ohne den Meister persönlich, brilliert mit kreativem Handwerk und perfekter Präsentati­on auf den Tellern. Der Platz ist sicher außergewöh­nlich, der Service schnell und flink (manchmal vielleicht etwas zu flink ...), das Interieur sehr ansprechen­d. Und über Pastis, Portionen und Preise kann man ja wunderbar streiten und diskutiere­n – aber mit wem? Ein wenig mehr persönlich­e Ansprache braucht das Münchner Weltdorf-Publikum hier auf Dauer schon – prominent oder nicht, mit Mops oder ohne ...

Colette,Klenzestra­ße

72, 80469 München Tel. 230 02 555, www.brasseriec­olette.de Mi-So 12-15 Uhr (Küche bis 13.30) Mi-So 18-23 Uhr (Küche bis 21.30)

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Berliner Franzose ...
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... im Glockenbac­her Altenheim
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