Die Realität ist auch nur ein Modell
James Casebere zerlegt die Welt in ihre Abbilder
Geht man in ein Museum, dann tut man das in der Regel, um sich Kunst anzuschauen. Manchmal aber ist es mindestens genauso interessant, sich den Künstler anzuschauen. James Casebere ist aus New York angereist, um im Haus der Kunst seine große Retrospektive „James Casebere. Flüchtig“zu eröffnen. Und nun steht er da im dunklen Anzug mit einem roten Schal um den Hals und ziemlich munteren Augen. Und erzählt, dass er am liebsten alles geworden wäre: Maler, Fotograf, Schriftsteller, Architekt. „So bin ich bei der Fotografie gelandet, weil mich einfach alles interessiert hat.“Dieses vielseitig interessierte, forschende findet sich in allen Arbeiten des amerikanischen Künstlers wieder. Handelt es sich um intellektuelle Kunst? Ja. Aber das ist nur eine Ebene, seine Herangehensweise. Caseberes Arbeiten haben einen langen theoretischen und rechercheintensiven Vorlauf. Bevor er das Modell einer Gefängniszelle baut, um es zu fotografieren, hat er zahlreiche Bücher gelesen, Gefängnisse besucht und sich ganz grundsätzlich mit der Frage von Schuld und Buße beschäftigt. Arbeitshefte, Skizzenbücher und eine Auswahl von bisher nie gezeigten PolaroidStudien machen den Entstehungsprozess öffentlich. Casebere will es wissen, zerlegt die Themen, gräbt sich wie ein Maulwurf in die Tiefe und taucht erst wieder auf, wenn ein Bild in seinem Kopf entstanden ist, das er der Welt entgegenhalten kann. Der Realität, also dem, was uns scheinbar so authentisch umgibt, misstraut er. Casebere will nichts weniger als hinter das Bild der Welt blicken, das uns das Licht auf unsere Netzhaut zeichnet. Und er tut das, indem er ein eigenes Abbild der Welt baut, eine Modellwelt, eine Metaversion. Und die fotografiert er dann.
Paradoxerweise wirkt diese Casebersche Gegenwelt auf eine abstrakte Art und Weise sehr echt. Die typisch adrette Vorstadtsiedlung zum Beispiel. Genormte Würfelhäuschen dösen in kleinen Gärten, jedem Amerikaner sein Rockzipfel vom großen amerikanischen Traum. Oder der Silbergelatineabzug von 1980 mit dem Titel „Courtroom“. Ein Raum, darin ein Tisch und viele Stühle, schwarz, weiß, harte Schatten. Man denkt an Gerichtsfilme, Film Noir, zwielichtige Gestalten, Richter und Geschworene, Stories ziehen auf am Horizont. Und das, obwohl Caseberes Bilder menschenleer sind – und zwar alle. Also springt man als Betrachter selbst ins Bild und schaut mal, wie sich das anfühlt in einer amerikanischen Vorstadtsiedlung, in einem Gerichtssaal, in einem Gefängnis, in einem Krankenhaus, in einer Mosche … Und merkt recht schnell, dass diese Räume, die Casebere einem anbietet, Denkräume sind. Eine atmosphärisch dichte Parallelwelt, die einem mit dem eigenen Unterbewussten konfrontiert. Mit dem, was man gerne wegdrückt, seine Angst zum Beispiel. Ein schönes Bild dafür sind seine gefluteten Räume. Etwas Fremdes, Bedrohliches, nicht Kontrollierbares ist eingedrungen in die Zivilisation und unterspült und hinterfragt diese mühsam geschaffene Sicherheit. Schafft sie ab. Angst? Über 50 Arbeiten aus 40 Jahren gibt es zu entdecken. Und vier großformatige Friese, die Casebere eigens für den Treppenaufgang im Haus der Kunst konzipiert hat: bunte, marschierende Flaggen. „I got interested in crowds,“erklärt er. Und, dass er sich viele Filme aus der Nazi-Zeit angesehen hat. Unter anderem, versteht sich.