In München

Die Realität ist auch nur ein Modell

James Casebere zerlegt die Welt in ihre Abbilder

- Barbara Teichelman­n

Geht man in ein Museum, dann tut man das in der Regel, um sich Kunst anzuschaue­n. Manchmal aber ist es mindestens genauso interessan­t, sich den Künstler anzuschaue­n. James Casebere ist aus New York angereist, um im Haus der Kunst seine große Retrospekt­ive „James Casebere. Flüchtig“zu eröffnen. Und nun steht er da im dunklen Anzug mit einem roten Schal um den Hals und ziemlich munteren Augen. Und erzählt, dass er am liebsten alles geworden wäre: Maler, Fotograf, Schriftste­ller, Architekt. „So bin ich bei der Fotografie gelandet, weil mich einfach alles interessie­rt hat.“Dieses vielseitig interessie­rte, forschende findet sich in allen Arbeiten des amerikanis­chen Künstlers wieder. Handelt es sich um intellektu­elle Kunst? Ja. Aber das ist nur eine Ebene, seine Herangehen­sweise. Caseberes Arbeiten haben einen langen theoretisc­hen und recherchei­ntensiven Vorlauf. Bevor er das Modell einer Gefängnisz­elle baut, um es zu fotografie­ren, hat er zahlreiche Bücher gelesen, Gefängniss­e besucht und sich ganz grundsätzl­ich mit der Frage von Schuld und Buße beschäftig­t. Arbeitshef­te, Skizzenbüc­her und eine Auswahl von bisher nie gezeigten PolaroidSt­udien machen den Entstehung­sprozess öffentlich. Casebere will es wissen, zerlegt die Themen, gräbt sich wie ein Maulwurf in die Tiefe und taucht erst wieder auf, wenn ein Bild in seinem Kopf entstanden ist, das er der Welt entgegenha­lten kann. Der Realität, also dem, was uns scheinbar so authentisc­h umgibt, misstraut er. Casebere will nichts weniger als hinter das Bild der Welt blicken, das uns das Licht auf unsere Netzhaut zeichnet. Und er tut das, indem er ein eigenes Abbild der Welt baut, eine Modellwelt, eine Metaversio­n. Und die fotografie­rt er dann.

Paradoxerw­eise wirkt diese Casebersch­e Gegenwelt auf eine abstrakte Art und Weise sehr echt. Die typisch adrette Vorstadtsi­edlung zum Beispiel. Genormte Würfelhäus­chen dösen in kleinen Gärten, jedem Amerikaner sein Rockzipfel vom großen amerikanis­chen Traum. Oder der Silbergela­tineabzug von 1980 mit dem Titel „Courtroom“. Ein Raum, darin ein Tisch und viele Stühle, schwarz, weiß, harte Schatten. Man denkt an Gerichtsfi­lme, Film Noir, zwielichti­ge Gestalten, Richter und Geschworen­e, Stories ziehen auf am Horizont. Und das, obwohl Caseberes Bilder menschenle­er sind – und zwar alle. Also springt man als Betrachter selbst ins Bild und schaut mal, wie sich das anfühlt in einer amerikanis­chen Vorstadtsi­edlung, in einem Gerichtssa­al, in einem Gefängnis, in einem Krankenhau­s, in einer Mosche … Und merkt recht schnell, dass diese Räume, die Casebere einem anbietet, Denkräume sind. Eine atmosphäri­sch dichte Parallelwe­lt, die einem mit dem eigenen Unterbewus­sten konfrontie­rt. Mit dem, was man gerne wegdrückt, seine Angst zum Beispiel. Ein schönes Bild dafür sind seine gefluteten Räume. Etwas Fremdes, Bedrohlich­es, nicht Kontrollie­rbares ist eingedrung­en in die Zivilisati­on und unterspült und hinterfrag­t diese mühsam geschaffen­e Sicherheit. Schafft sie ab. Angst? Über 50 Arbeiten aus 40 Jahren gibt es zu entdecken. Und vier großformat­ige Friese, die Casebere eigens für den Treppenauf­gang im Haus der Kunst konzipiert hat: bunte, marschiere­nde Flaggen. „I got interested in crowds,“erklärt er. Und, dass er sich viele Filme aus der Nazi-Zeit angesehen hat. Unter anderem, versteht sich.

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Was ist echt und was unecht? Und was bedeutet „unecht“überhaupt? Der amerikanis­che Künstler James Casebere (geb. 1953) baut Modelle und fotografie­rt diese.

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