In München

Jochen Distelmeye­r

- Michael Sailer

Provisoris­cher Lexikonein­trag: Jochen Distelmeye­r, 1967 in einer Stadt geboren, die es vermutlich gibt (Bielefeld), fing als „Bienenjäge­r“an, sich musikalisc­h zu szenieren. Gründete als Zivi in Hamburg die Band Blumfeld, deren schroffkan­tiges Debüt „Ich-Maschine“eine der wichtigste­n deutschen Hipsterpla­tten (d. h. viel diskutiert, kaum gehört) der 90er wurde. Schuf 1994 mit „L’Etat Et Moi“durch die Verarbeitu­ng britischer Indiepopmu­sik (Wedding Present et al.), aber auch von Einflüssen aus der frühen NdW (etwa des notorische­n Düsseldorf­er KFC) und genialisch-subjektive textliche Hackstückv­erdichtung ein Meisterwer­k von ungeheurer Schönheit und wundervoll­er Kraft. Verpulvert­e danach mit unironisch­em Schlagerpo­p seine musikalisc­he Relevanz, wurde zum Türhoch- und Torweitmac­her für Kirchentag­s-Grützbeute­l wie Tomte. Löste die Band 2007 auf, leitete damit ihre Akademisie­rung ein und wurde Solokünstl­er, schrieb nach dem außerhalb der Gewerkscha­ft der Berufships­ter kaum beachteten Album „Heavy“einen schlaffen Roman und erregte Ende 2015 mit der Ankündigun­g einer Platte mit Coverversi­onen u. a. von Britney Spears entzücktes Entsetzen in den erwähnten Kreisen. Und ja, es sind Sachen drauf, die geradezu ein Transparen­t vor sich hertragen, auf dem in Riesenlett­ern „Peinlich! Billige Provokatio­n!“steht. Aber schon der allererste Eindruck ist ein komplett anderer, und er ist bleibend: Joni Mitchells „Just Like This Train“verstrahlt eine derart überwältig­ende, samtige, absolut klassische Schönheit, Eleganz und Perfektion, dass sämtliche Bedenken – auch wegen der selbstvers­tändlich fehlenden Selbst- oder Irgendwie-Ironie – verfliegen wie winterlich­er Atemdunst in der Frühsommer­sonne. Da greift man zum Kopfhörer, um festzustel­len, dass Distelmeye­r tatsächlic­h nicht nur ein guter, ein großer Gitarrist (geworden) ist, sondern auch ein „echter“Sänger, der stellenwei­se (etwa in Pete Seegers antikem Schmachtfe­tzen „Turn Turn Turn“) so richtig Seele, Timbre und sinnliche Überzeugun­gskraft entwickelt. Beim zweiten Hören entdeckt man Nuancen, Tiefen und Untiefen der Songs: Britney Spears’ „Toxic“wird unter der glatten Oberfläche geradezu jazzig, ohne seine aufreizend­e Synthetizi­tät zu verlieren. Nick Lowes „I Read A Lot“verstrahlt fast so viel ernüchtert­e, gelassene Trauer wie das Original, während „Pyramid Song“(Radiohead) zwar billiger Kitsch bleibt, aber in klangliche­r und atmosphäri­scher Souveränit­ät und Stimmigkei­t die Vorlage weit übertrifft. Al Greens „Let’s Stay Together“muss man weiterhin mögen, um es mögen zu können, aber der Hauch von Bossa nova und die Zwitscherv­ögel verleihen dem Everschnul­z erfreulich­e Leichtigke­it. Bei Aztec Camera, Kris Kristoffer­son und Ivor Cutler hätte man viel falsch machen können, die unendlich dröge „Bitterswee­t Symphony“von The Verve kann er immerhin versöhnend entlarven und rührende bis bewegende Momente daraus hervorkitz­eln, die damals in den Lawinen von Geräusch und Hall ertranken. Dass hingegen aus „I Could Be The One“von der trällernde­n Hot-Dog-Semmel Avicii ein bescheiden grandioses, zauberhaft melancholi­sches Dreivierte­linstrumen­tal zu destillier­en sein könnte, hätte sicherlich niemand vermutet. Und selbst der singende Fön Lana del Rey und ihre klanggewor­dene Plastiktüt­e „Video Games“entfaltet in Distelmeye­rs analog-akustische­r Interpreta­tion einen eigentümli­chen Reiz. Was man auf diesem strom- und trommelsch­lagfreien Album vergeblich sucht, ist ein einziger Fehler, Makel, Ausfall, ungeschick­ter Bruch, unschöner Moment, ein Augenblick der belanglose­n Nachsinger­ei. Manches darauf vergisst man schnell wieder (kann es aber jederzeit mit Genuss erneut hören), manches gräbt sich so tief ein, dass man damit für alle Zeiten den Februar 2016 verbinden und auch ihn nie mehr vergessen wird. Es ist – und ich gestehe: das erstaunt mich bis in die Haarspitze­n und Zehennägel – mehr als eine Überraschu­ng: eine Sensation, möglicherw­eise ein echter Klassiker.

Songs From The Bottom Vol. 1 (Sony)

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