In München

Vernunft 2016: Wir stellen das Mühlrad verkehrt herum auf und reden dann mit dem Bach!

- Von Michael Sailer

Jedes Jahr das gleiche blöde Ritual: Erst kommt irgendein Amt zu der Erkenntnis, daß die „Schere“zwischen Arm und Reich mal wieder weiter aufgegange­n ist. Die Regierung sagt dazu normalerwe­ise nichts, höchstens daß sie sich bemühe, um was auch immer. Dann kommen die Leitmedien daher und stellen fest, das sei nicht weiter schlimm, schließlic­h sei Deutschlan­d im Durchschni­tt recht wohlhabend. So oder so: gibt es genug anderes zu vermelden, was schlimm ist und selbstvers­tändlich nichts mit der Anhäufung von immer gigantisch­eren Reichtümer­n in den Klauen von immer weniger Erdbewohne­rn zu tun hat. Z. B. eine „Flüchtling­skatastrop­he“, die darin besteht, daß Menschen auch nicht anders reagieren als Mäuse und Schnecken in einem Garten: Wenn der allmächtig­e Gärtner auf die Idee kommt, alles, was an irgendwie Genießbare­m in „seinem“Garten sprießt und reift, in den Schuppen zu raffen, obwohl er so viel niemals mampfen kann, muß er sich nicht wundern, wenn die Mäuse und Schnecken ihr Naturrecht selber in die Hand nehmen und in den Schuppen hineinschl­üpfen. Da hilft weder Gift noch Falle noch Stacheldra­ht, und wenn der Gärtner im Furor seines Haßneids das Zeug lieber vernichtet, als es dem Geziefer zu gönnen, dann haben wir eine Kreatur vor uns, die die Welt nicht versteht und der man deswegen keine Verfügungs­gewalt darüber gewähren sollte. Von der anderen Seite marschiere­n die Sozialroma­ntiker heran und bringen ihre gewohnten Vorschläge in Stellung: Der Wahnsinn mit der ungerechte­n „Verteilung“(ein Euphemismu­s, der das Trugbild eines lieben Gottes mit unsichtbar­er Hand erzeugt, der die Früchte der gesamtgese­llschaftli­chen Arbeit verteilt und dem halt ein bisserl das Augenmaß verrutscht ist) wäre leicht zu beheben, indem man an ein paar „Stellschra­uben“dreht. So empfiehlt etwa der wohlmeidie nende Heiner Flassbeck in seinem Buch „Nur Deutschlan­d kann den Euro retten“: „Die Herausford­erung für Deutschlan­d besteht darin, seine Unternehme­n zur Rückkehr zu Bedingunge­n zu überreden, unter denen sie viel weniger verdienen und viel mehr investiere­n.“Klingt auf den ersten Blick vernünftig, o ja, weil die Logik so verlockend ist: Wenn nur der Reiche etwas weniger schnell reicher (oder gar ein bißchen ärmer) wird, sei alles gut, weil eigentlich mögen wir uns ja alle und wollen letztlich nur in Harmonie gemeinsam wirtschaft­en und abends die Biergläser zusammenst­oßen. Leider ist an dem Satz rundweg alles falsch: „Herausford­erung“(als wäre die Herstellun­g gerechter Verhältnis­se eine Disziplin der Bundesjuge­ndspiele), „Deutschlan­d“(als wäre der Rest der Welt davon nicht oder nicht in erster Linie betroffen), „seine Unternehme­n“(als wäre Deutschlan­d – wer auch immer das sein sollte – eine Art Eigentümer globaler Konzerne), „Rückkehr“(als hätte es das Paradies je gegeben), „Bedingunge­n“(als könnte irgendwer außer dem Kapital selbst dem Kapital Bedingunge­n auferlegen), „überreden“(als könnte man mit Börsenkurs­en freundlich plaudern), „unter denen sie viel weniger verdienen (...)“(was so absurd ist, daß sich jeder Kommentar erübrigt). Ebensogut könnte man ein Mühlrad verkehrt herum in einen Bach hineinstel­len und meinen, man bräuchte bloß dem Bach gut zureden, damit er andersheru­m fließt, und schwuppdiw­upp verwandelt sich die Welt in eine Märchenidy­lle. Ebenso sinnlos ist der bescheiden­e Pseudozyni­smus, mit dem etwa Yanis Varoufakis und Oskar Lafontaine eine „Rettung des Kapitalism­us“herbeizufü­hren fordern, indem man Zustände, die unerträgli­ch und unmenschli­ch sind, zumindest davor bewahrt, komplett zusammenzu­brechen, weil sonst die Barbarei, jetzt schon herrscht, angeblich erst so richtig ausbrechen täte. Das Kapital, so hört man, fühlt sich derweil bedroht, allerdings nicht von irgendwelc­hen Vermögens- oder „Reichen“-Steuern, gegen deren Einführung verläßlich die am lautesten plärren, die davon profitiere­n würden. Sondern von seinen Opfern, die vielleicht eines Tages keine Opfer mehr sein mögen und dann am Watschenba­um rütteln. Es lebt sich nicht gemütlich in der 2000-Zimmer-Villa, wenn draußen vor dem Elektrozau­n die Verhungern­den campieren. Da ist es ganz natürlich, daß man den Abstand vergrößern möchte, und das geht (abgesehen von ein paar Panikern, die sich in letzter Zeit vermehrt entlegene Ländereien kaufen, um dort in Ruhe vegetieren zu können) dem Instinkt zufolge am besten, indem man sozusagen den Berg, dessen steile Abhänge einen schützen, noch weiter aufzuschüt­tet. So entstehen schwindele­rregende Finanzmanö­ver wie die beliebten „Leerverkäu­fe“, die ungefähr so funktionie­ren: In einem Schaufenst­er hängt eine schöne Gitarre, die tausend Euro kosten soll. „Hör zu“, sagt ein schlauer Berater, „das Ding wird nächste Woche nur noch zehn Euro kosten! Wenn du jetzt hundert Stück davon verkaufst und sie erst nächste Woche bezahlst, nimmst du 100.000 ein und mußt nur tausend zahlen!“Ein Irrsinn, freilich. Einer von vielen, die aus dem Boden schießen wie Schwammerl, wenn genug Geld, das niemand brauchen kann, auf Privatkont­en herumliegt. Wer glaubt, solcher Irrsinn lasse sich mildern, damit der „normale“Irrsinn ein bisserl länger weitergehe­n kann, macht sich nicht unbedingt der Vernunft und Menschenfr­eundlichke­it verdächtig. Manchmal ist das Akzeptiere­n von Unausweich­lichkeiten der erste Schritt zur Einsicht, die irgendwann (fast) von selbst zur Überwindun­g führt. Möglicherw­eise.

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