Vernunft 2016: Wir stellen das Mühlrad verkehrt herum auf und reden dann mit dem Bach!
Jedes Jahr das gleiche blöde Ritual: Erst kommt irgendein Amt zu der Erkenntnis, daß die „Schere“zwischen Arm und Reich mal wieder weiter aufgegangen ist. Die Regierung sagt dazu normalerweise nichts, höchstens daß sie sich bemühe, um was auch immer. Dann kommen die Leitmedien daher und stellen fest, das sei nicht weiter schlimm, schließlich sei Deutschland im Durchschnitt recht wohlhabend. So oder so: gibt es genug anderes zu vermelden, was schlimm ist und selbstverständlich nichts mit der Anhäufung von immer gigantischeren Reichtümern in den Klauen von immer weniger Erdbewohnern zu tun hat. Z. B. eine „Flüchtlingskatastrophe“, die darin besteht, daß Menschen auch nicht anders reagieren als Mäuse und Schnecken in einem Garten: Wenn der allmächtige Gärtner auf die Idee kommt, alles, was an irgendwie Genießbarem in „seinem“Garten sprießt und reift, in den Schuppen zu raffen, obwohl er so viel niemals mampfen kann, muß er sich nicht wundern, wenn die Mäuse und Schnecken ihr Naturrecht selber in die Hand nehmen und in den Schuppen hineinschlüpfen. Da hilft weder Gift noch Falle noch Stacheldraht, und wenn der Gärtner im Furor seines Haßneids das Zeug lieber vernichtet, als es dem Geziefer zu gönnen, dann haben wir eine Kreatur vor uns, die die Welt nicht versteht und der man deswegen keine Verfügungsgewalt darüber gewähren sollte. Von der anderen Seite marschieren die Sozialromantiker heran und bringen ihre gewohnten Vorschläge in Stellung: Der Wahnsinn mit der ungerechten „Verteilung“(ein Euphemismus, der das Trugbild eines lieben Gottes mit unsichtbarer Hand erzeugt, der die Früchte der gesamtgesellschaftlichen Arbeit verteilt und dem halt ein bisserl das Augenmaß verrutscht ist) wäre leicht zu beheben, indem man an ein paar „Stellschrauben“dreht. So empfiehlt etwa der wohlmeidie nende Heiner Flassbeck in seinem Buch „Nur Deutschland kann den Euro retten“: „Die Herausforderung für Deutschland besteht darin, seine Unternehmen zur Rückkehr zu Bedingungen zu überreden, unter denen sie viel weniger verdienen und viel mehr investieren.“Klingt auf den ersten Blick vernünftig, o ja, weil die Logik so verlockend ist: Wenn nur der Reiche etwas weniger schnell reicher (oder gar ein bißchen ärmer) wird, sei alles gut, weil eigentlich mögen wir uns ja alle und wollen letztlich nur in Harmonie gemeinsam wirtschaften und abends die Biergläser zusammenstoßen. Leider ist an dem Satz rundweg alles falsch: „Herausforderung“(als wäre die Herstellung gerechter Verhältnisse eine Disziplin der Bundesjugendspiele), „Deutschland“(als wäre der Rest der Welt davon nicht oder nicht in erster Linie betroffen), „seine Unternehmen“(als wäre Deutschland – wer auch immer das sein sollte – eine Art Eigentümer globaler Konzerne), „Rückkehr“(als hätte es das Paradies je gegeben), „Bedingungen“(als könnte irgendwer außer dem Kapital selbst dem Kapital Bedingungen auferlegen), „überreden“(als könnte man mit Börsenkursen freundlich plaudern), „unter denen sie viel weniger verdienen (...)“(was so absurd ist, daß sich jeder Kommentar erübrigt). Ebensogut könnte man ein Mühlrad verkehrt herum in einen Bach hineinstellen und meinen, man bräuchte bloß dem Bach gut zureden, damit er andersherum fließt, und schwuppdiwupp verwandelt sich die Welt in eine Märchenidylle. Ebenso sinnlos ist der bescheidene Pseudozynismus, mit dem etwa Yanis Varoufakis und Oskar Lafontaine eine „Rettung des Kapitalismus“herbeizuführen fordern, indem man Zustände, die unerträglich und unmenschlich sind, zumindest davor bewahrt, komplett zusammenzubrechen, weil sonst die Barbarei, jetzt schon herrscht, angeblich erst so richtig ausbrechen täte. Das Kapital, so hört man, fühlt sich derweil bedroht, allerdings nicht von irgendwelchen Vermögens- oder „Reichen“-Steuern, gegen deren Einführung verläßlich die am lautesten plärren, die davon profitieren würden. Sondern von seinen Opfern, die vielleicht eines Tages keine Opfer mehr sein mögen und dann am Watschenbaum rütteln. Es lebt sich nicht gemütlich in der 2000-Zimmer-Villa, wenn draußen vor dem Elektrozaun die Verhungernden campieren. Da ist es ganz natürlich, daß man den Abstand vergrößern möchte, und das geht (abgesehen von ein paar Panikern, die sich in letzter Zeit vermehrt entlegene Ländereien kaufen, um dort in Ruhe vegetieren zu können) dem Instinkt zufolge am besten, indem man sozusagen den Berg, dessen steile Abhänge einen schützen, noch weiter aufzuschüttet. So entstehen schwindelerregende Finanzmanöver wie die beliebten „Leerverkäufe“, die ungefähr so funktionieren: In einem Schaufenster hängt eine schöne Gitarre, die tausend Euro kosten soll. „Hör zu“, sagt ein schlauer Berater, „das Ding wird nächste Woche nur noch zehn Euro kosten! Wenn du jetzt hundert Stück davon verkaufst und sie erst nächste Woche bezahlst, nimmst du 100.000 ein und mußt nur tausend zahlen!“Ein Irrsinn, freilich. Einer von vielen, die aus dem Boden schießen wie Schwammerl, wenn genug Geld, das niemand brauchen kann, auf Privatkonten herumliegt. Wer glaubt, solcher Irrsinn lasse sich mildern, damit der „normale“Irrsinn ein bisserl länger weitergehen kann, macht sich nicht unbedingt der Vernunft und Menschenfreundlichkeit verdächtig. Manchmal ist das Akzeptieren von Unausweichlichkeiten der erste Schritt zur Einsicht, die irgendwann (fast) von selbst zur Überwindung führt. Möglicherweise.