In München

Rockin‘ All Over The World

- Markus Naegele

Die erste Band, an die ich mich rückblicke­nd ernsthaft erinnern kann, sind die Bay City Rollers. In ihren superschic­ken Tartan-Einteilern mit den Hochwasser­hosen sind sie 1976 die ultimative Popband, für mich sogar eine Rockband. Mit „Rock’n’Roll Love Letter“lehren sie mich achtjährig­en Nicki-Pullovertr­äger mit Papageiauf­druck, was die Stunde geschlagen hat. In Ilja Richters „Disco“zeigen mir die fünf Schotten, was ein „music makin’ man“so alles zu leisten im Stande ist, um seinen Liebsten zu imponieren. „But I keep on rock’n’rolling till my genes explode.” Ich glaube jedes Wort. Heute frage ich mich ja, ob statt der Gene vielleicht die Jeans gemeint waren. Da müsste ich mal Les McKeown fragen, den Sänger, den ich tatsächlic­h einmal getroffen habe, als ich 2004 seine Autobiogra­fie „Rollermani­ac“als Buchlektor betreute. Wir spielten Kicker, er rauchte starke Zigaretten und trank noch stärkeren Kaffee. Das Buch war ziemlich lesenswert und dramatisch, es kam sogar Dieter Bohlen vor, der Ende der 80er McKeown noch einmal mehrere Top-50-Hits bescherte, an die sich außer Bohlen kein Mensch auf Erden je wird erinnern können. Aber zurück zu „Rock’n’Roll Love Letter“. Der Song stammt aus der Feder von Tim Moore, einem amerikanis­chen Songwriter und Gitarriste­n, der mit diesem Song die Aufmerksam­keit von Keith Richards auf sich zog, der sich mit Moore anfreundet­e. Tatsächlic­h jammte Moore sogar zwei Wochen mit den Stones und Peter Tosh. 1986 sollte er in Brasilien mit der romantisch­en Ballade „Yes“für zehn Wochen Platz 1 der Charts okupieren. Kennt hier jemand den Song? Das jedenfalls ist die Verbindung der Bay City Rollers zu den Rolling Stones. Ich liebe beide, auch wenn ich da vermutlich der Einzige weit und breit sein mag. Naja, auch Kurt Cobain war ein großer BCR-Fan. Und hört euch mal Nick Lowes „Rollers Show“an, Parodie hin oder her, für mich ist das ein sehr liebevolle­s Tribute an meine erste Lieblingsb­and.

# Fast forward ins Jahr 1981. Mein erstes großes Konzert. Bruce Springstee­n & the E Street Band in der Frankfurte­r Festhalle. 14.4.81, um genau zu sein. Ich bin vierzehn, sehe aus wie zwölf, habe aber einen amerikanis­chen Schulfreun­d namens Peter. Dessen Eltern sind bei der Army, wodurch er bei den PX-Stores günstig an Platten kommt, die ich mir dann auf Kassette aufnehmen darf. Für eine der Platten kann ich meine Mutter begeistern, die mir tatsächlic­h Geld in die Hand drückt, um es ihr zu kaufen: „The River“, ein Doppelalbu­m voller trauriger Balladen und wilder Rock’n’Roll-Nummern. Das meiste davon verstehe ich wohl kaum, aber es reicht, um sofort Ja zu sagen, als mich Peter fragt, ob ich mit ihm und seinen Eltern mit zum Konzert vom „Boss“wolle. Heutzutage findet man mit einem einzigen Mausklick die komplette Setlist des Abends, damals war das alles ein großes, unfassbare­s Abenteuer. Ich weiß noch, dass das Konzert ewig dauerte, bestimmt zwei Fußballspi­ele lang. Am Ende soll er als letzte Zugabe „Rockin’ All over the World“gespielt haben, was alle wahlweise als Status-Quo-Klassiker oder Wiesn-Hit abgespeich­ert haben, dabei stammt der Song von John Fogerty, dem Sänger von Creedence Clearwater Revival. Da ich damals aber von Klassikern keinen Schimmer hatte, werde ich vermutlich „And I like it, I like it, I like it, I lalala like it“nicht mitgegröhl­t haben, mir dafür aber fest geschworen haben, Bruce Springstee­n für alle Zeiten in mein Herz zu schließen und eisern gegen alle Kritiker zu verteidige­n. Was ich seit bald 35 Jahren auch treu tue, selbst als das in den 90ern alles andere als cool glt.

Auch 1981 mache ich dann eine weitere interessan­te Entdeckung: Punkrock. Jetzt wird der eine oder andere Schlau-

fuchs einwenden, Punkrock sei doch 1979 schon vorbei gewesen. London 1976 und überhaupt. Ja, das mag schon sein, aber in Dietzenbac­h in der Reihenhaus­siedlung im Rotdornweg war davon herzlich wenig zu spüren. Police und The Knack galten als hip, New Wave wurde das genannt. Dann kamen die Eltern auf die Idee, ich sollte doch Lebenserfa­hrung sammeln, im Ausland. Schüleraus­tausch. England. Im Herbst. In Chelmsford, nordöstlic­h von London. Die Gastfamili­e wohnte noch einmal 20 weitere Kilometer nördlich davon in einem Kaff namens Braintree. Komplette Einöde. Keine Heizung. Es war eiskalt. In der Schule mussten die drei deutschen Jammerlapp­en trotzdem in kurzen Hosen und Shirts draußen Rugby spielen und um ihr Leben rennen. The fucking Germans! Ich freute mich auf die Stunde Haushaltsu­nterricht, da wurde Shortbread gebacken, und die Mädchen waren lieb zu mir. Und dann kam Punkrock! Der Bruder des Austauschs­chülers erzählte eines Tages, er sei gestern bei The Clash gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wer oder was das war, aber es klang gut. Und plötzlich kamen weitere Namen dazu: The Damned, Stiff Little Fingers, Sex Pistols, Stranglers. Ich war angefixt und begann, mein ganzes Taschengel­d in Platten zu investiere­n, die ich über einen Second-Hand-Mailorder zu günstigen Preisen erwerben konnte. Und bei einem Ausflug nach London kaufte ich für heute lächerlich­e £2.99 das Doppelalbu­m „It’s Alive“von den Ramones, bis heute neben „No Sleep til Hammersmit­h“von Motörhead mein liebstes Livealbum. Plötzlich war Rock’n’Roll gefährlich, gab es kein Rumgemache, kein Grinsen, einfach immer gnadenlos vorwärts. 28 Songs in 54 Minuten. Eine Offenbarun­g, bis heute. Hit auf Hit. Keine Atempause. Dazu Jeans und Lederjacke. Mit den Ramones im Ohr konnte es selbst ein dürrer VorortTeen­ager mit der Welt aufnehmen. Mit der Platte war ich zurück in Deutschlan­d bei den Tennisfreu­nden bald der König. Gabba Gabba Hey! Die80er sollten dann ein merkwürdig­es Jahrzehnt mit allerhand Geschmacks­verirrunge­n werden. Neben Punkrock hörte ich plötzlich Hair-Metal, AOR-Rock, Rodgau Monotones und U2. Bis heute habe ich dafür keine Erklärung, aber immerhin kann ich wahrheitsg­emäß behaupten, einen breiten musikalisc­hen Background zu besitzen, egal, wie peinlich der auch aussehen mag.

Ende der 80er, als ich inmitten der wohl trostloses­ten Phase der Musikgesch­ichte nach irgendwelc­hen aufregende­n Sounds suchte, englische Musikmagaz­ine las und mich alternativ fühlen wollte, stieß ich schließlic­h auf die Band, die ich seither als meine Lieblingsb­and angebe, wenn ich danach gefragt werde: die Pixies. Vier unauffälli­ge Nerds aus Boston, die mit vier Studiound einem Minialbum in vier Jahren den Indierock umkrempelt­en. Zumindest die ersten drei Platten klingen auch heute noch phantastis­ch. „Surfer Rosa“zählt sicher zu einem der 10 besten Debütalben aller Zeiten, zumindest wenn man mich fragt. Nie wieder klang Noiserock so elegant und catchy. Viele Bands haben versucht, die Pixies zu imitieren, es ist niemandem gelungen. Zwischen mexikanisc­hem Akustik-Geklampfe, wüstem Noiseattac­ken, Surfrock und spinnert-naiven Abzählreim­en lotet die Band perfekt das Spiel mit laut und leise aus, mit dem Nirvana kurze Zeit später Millionen Platten verkaufen, ohne je die Raffinesse der Pixies zu erreichen. Und mit Nirvana schließt sich dann der Kreis von den Bay City Rollers bis zu den Pixies. Where is my mind? Ich habe keine Ahnung. Der Autor ist Verlagslei­ter von Heyne Core, veranstalt­et die „It’s a Hardcore Night“(17.3., Unter Deck) und spielt in der Band Fuck Yeah (10.3., Cord, mit The Last Things).

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany