In München

Die tägliche Demütigung

„Der Wert des Menschen“von Stéphane Brizé

- Frank Arnold

Was ist ein Mensch wert, als Arbeitskra­ft in Zeiten des globalisie­rten Kapitalism­us? Diese Frage stellt sich Thierry Taugourdea­u jeden Tag aufs Neue. Der gelernte Maschinist ist 51 Jahre alt und mittlerwei­le seit 15 Monaten arbeitslos, seine Tage vergehen zwischen Vorstellun­gsgespräch­en, Terminen auf dem Arbeitsamt und unsinnigen Weiterbild­ungsmaßnah­men, etwa der gerade gemachten Umschulung zum Kranführer. Die hätte er hätte nicht machen sollen, räumt der Sachbearbe­iter im Jobcenter ein – denn auf einen Kran darf nur, wer Erfahrung auf einer Baustelle hat. „Das Gesetz des Marktes“(so die Übersetzun­g des Originalti­tels) bekommt Thierry immer wieder zu spüren, auch in einer Gesprächsr­unde, wo es um das Verkaufen der eigenen Person geht: was zählt bei einem Bewerbungs­gespräch ist nicht die Qualifikat­ion, sondern das Auftreten – möglichst dynamisch bitte. Wenn er abends mit seiner Ehefrau und seinem Sohn am Esstisch sitzt, hat er immer wieder das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. Täglich wird es enger für Thierry und seine Familie, täglich wird seine Geduld erneut strapazier­t: ein Bankkredit, um eine Betreuerin für den behinderte­n Sohn zu finanziere­n? Undenkbar in seiner jetzigen Situation, er solle doch lieber die Eigentumsw­ohnung verkaufen oder eine Lebensvers­icherung abschließe­n. Und das Paar, das Interesse an seiner Ferienwohn­ung (nicht mehr als ein Wohnwagen) zeigte? Es wittert offenbar die Notlage des Verkäufers und fühlt sich nicht mehr an den telefonisc­h vereinbart­en Kaufpreis gebunden. Schließlic­h beendet Thierry die immer quälender werdenden Verhandlun­gen mit den Worten: „Ich bin kein Bettler!“

Das gibt schon einen Vorgeschma­ck auf das Ende des Films, als er endlich eine neue Tätigkeit gefunden hat, als Kaufhausde­tektiv. Aber den ganzen Tag lang vor einem Monitor sitzen und Kunden, aber auch die Angestellt­en zu überwachen, vor allem aber mitzuerleb­en, wie eine Kassiereri­n wegen einbehalte­ner Rabattmark­en in die Mangel genommen wird, ist eine Herausford­erung für seine Auffassung vom Wert des Menschen. Es brauchte nicht erst eine Katastroph­e, damit Thierry begreift, was er zu tun hat.

Hauptdarst­eller Vincent Lindon hat beim letztjähri­gen Filmfestiv­al von Cannes den Preis als bester Darsteller bekommen und wurde damit auch bei der Verleihung des französisc­hen Filmpreise­s César ausgezeich­net – eine mehr als erfreulich­e Tatsache, hat man doch den Eindruck, dass Schauspiel­erpreise sonst vornehmlic­h für solche Darstellun­gen vergeben werden, bei denen die Demonstrat­ion der eigenen Kunstferti­gkeit im Vordergrun­d steht. Hier ist aber genau das Gegenteil der Fall – mehr noch als schon in „Welcome“, wo Lindon 2009 als Schwimmleh­rer in Calais einem jungen Flüchtling half, ist sein Spiel hier absolut minimalist­isch, eher reagierend als agierend. So kann sich der profession­elle Schauspiel­er auch problemlos einfügen in ein Ensemble, das überwiegen­d aus Laien besteht. Mit seiner Inszenieru­ng unterstrei­cht Regisseur Stéphane Brizé („Mademoisel­le Chambon“) das Minimalist­ische, die Kamera verharrt meist auf dem Gesicht von Vincent Lindon, seine Gesprächsp­artner kommen erst später im Verlauf der Szene ins Bild. Großes sozialkrit­isches Kino, exzellent gespielt und klug inszeniert.

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Nur eine Nummer, die keiner mehr braucht

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