Die tägliche Demütigung
„Der Wert des Menschen“von Stéphane Brizé
Was ist ein Mensch wert, als Arbeitskraft in Zeiten des globalisierten Kapitalismus? Diese Frage stellt sich Thierry Taugourdeau jeden Tag aufs Neue. Der gelernte Maschinist ist 51 Jahre alt und mittlerweile seit 15 Monaten arbeitslos, seine Tage vergehen zwischen Vorstellungsgesprächen, Terminen auf dem Arbeitsamt und unsinnigen Weiterbildungsmaßnahmen, etwa der gerade gemachten Umschulung zum Kranführer. Die hätte er hätte nicht machen sollen, räumt der Sachbearbeiter im Jobcenter ein – denn auf einen Kran darf nur, wer Erfahrung auf einer Baustelle hat. „Das Gesetz des Marktes“(so die Übersetzung des Originaltitels) bekommt Thierry immer wieder zu spüren, auch in einer Gesprächsrunde, wo es um das Verkaufen der eigenen Person geht: was zählt bei einem Bewerbungsgespräch ist nicht die Qualifikation, sondern das Auftreten – möglichst dynamisch bitte. Wenn er abends mit seiner Ehefrau und seinem Sohn am Esstisch sitzt, hat er immer wieder das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. Täglich wird es enger für Thierry und seine Familie, täglich wird seine Geduld erneut strapaziert: ein Bankkredit, um eine Betreuerin für den behinderten Sohn zu finanzieren? Undenkbar in seiner jetzigen Situation, er solle doch lieber die Eigentumswohnung verkaufen oder eine Lebensversicherung abschließen. Und das Paar, das Interesse an seiner Ferienwohnung (nicht mehr als ein Wohnwagen) zeigte? Es wittert offenbar die Notlage des Verkäufers und fühlt sich nicht mehr an den telefonisch vereinbarten Kaufpreis gebunden. Schließlich beendet Thierry die immer quälender werdenden Verhandlungen mit den Worten: „Ich bin kein Bettler!“
Das gibt schon einen Vorgeschmack auf das Ende des Films, als er endlich eine neue Tätigkeit gefunden hat, als Kaufhausdetektiv. Aber den ganzen Tag lang vor einem Monitor sitzen und Kunden, aber auch die Angestellten zu überwachen, vor allem aber mitzuerleben, wie eine Kassiererin wegen einbehaltener Rabattmarken in die Mangel genommen wird, ist eine Herausforderung für seine Auffassung vom Wert des Menschen. Es brauchte nicht erst eine Katastrophe, damit Thierry begreift, was er zu tun hat.
Hauptdarsteller Vincent Lindon hat beim letztjährigen Filmfestival von Cannes den Preis als bester Darsteller bekommen und wurde damit auch bei der Verleihung des französischen Filmpreises César ausgezeichnet – eine mehr als erfreuliche Tatsache, hat man doch den Eindruck, dass Schauspielerpreise sonst vornehmlich für solche Darstellungen vergeben werden, bei denen die Demonstration der eigenen Kunstfertigkeit im Vordergrund steht. Hier ist aber genau das Gegenteil der Fall – mehr noch als schon in „Welcome“, wo Lindon 2009 als Schwimmlehrer in Calais einem jungen Flüchtling half, ist sein Spiel hier absolut minimalistisch, eher reagierend als agierend. So kann sich der professionelle Schauspieler auch problemlos einfügen in ein Ensemble, das überwiegend aus Laien besteht. Mit seiner Inszenierung unterstreicht Regisseur Stéphane Brizé („Mademoiselle Chambon“) das Minimalistische, die Kamera verharrt meist auf dem Gesicht von Vincent Lindon, seine Gesprächspartner kommen erst später im Verlauf der Szene ins Bild. Großes sozialkritisches Kino, exzellent gespielt und klug inszeniert.