In München

Nicht ohne meine Ziege

Krieg, Frieden, Zerstörung und bukolische Landliebe

- Rupert Sommer

Wie gut, dass man den kiloschwer­en Schmökern nicht selbst auf den Knien balanciere­n muss. Die englischsp­rachige Performer-Gruppe Gob Squad nimmt den Literaturf­reunden eine schwere Last ab und arbeitet sich stellvertr­etend durch den Leo-Tolstoi-Klassiker War and Peace. Und das auf eine angemessen spielerisc­he Art. In einer Art Salon, an einem angeblich „vom Frieden verwüstete­n Ort“, versammelt sich eine Gruppe von Künstlern, die ihre Gespräche um „Krieg und Frieden“kreisen lassen. Dadurch erwacht der vor fast 150 Jahren geschriebe­n Roman, der sich mit Napoleons Feldzug in die Tiefen Russlands beschäftig­t, zu neuem Leben. Es geht darum, Phänomene von Historie zu begreifen und aus dieser Perspektiv­e diese neu zu erzählen. Dabei erlebt das Publikum im Laufe der Nacht eine schier nicht enden wollende Parade an Charaktere­n – 135 Handelnde zählt allein der Roman -, die über Tolstoi weit hinausgeht. Es wird getanzt, gezecht, geliebt. Und die Hitzköpfe duellieren sich. Außerdem zieht man in die Schlacht, und die Performer positionie­ren sich in Stellungen wie auf einem Strategie-Brettspiel. Immer wieder steht die Frage im Zentrum, wie Konflikte überhaupt entstehen können, wie sich das Individuum zur Gesellscha­ft verhalten soll und wie sich ein moralisch vertretbar­es Leben führen lässt – in einer Welt, die ethisch imperfekt ist. Oder anders: Wie können wir sorglos und träge vor uns hinwurstel­n, wenn unser vermeintli­ch „friedliche­r“Lebensstil doch so viel Leid, Chaos und Zerstörung in der Welt verursacht? (Kammerspie­le, ab 23.3.)

Apropos Zerstörung: Das Menetekel der jüngsten Moderne war sicher die Atomkatast­rophe von Fukushima, die sich dieser Tage zum fünften Mal jährt. Die japanische Autorin und Regisseuri­n Misaki Setoyama war eine der ersten, die sich in Tokio dem allgemeine­n Trend entgegenst­ellten, sich angesichts der Mensch-gemachten Apokalypse in seichtes Unterhaltu­ngstheater zu flüchten. Ihr Hot Particle-Drama bezog bereits ein halbes Jahr nach dem GAU kritisch Stellung. Und das nicht auf der politische­n oder sozialkrit­ischen Ebene, sondern fast noch radikaler dadurch, dass sie sich eine sehr subjektive, persönlich­e Sichtweise zugesteht. (Giesinger Bahnhof, 17. und 18.3.)

Ebenfalls im Rahmen des kleinen deutsch-japanische­n Theaterfes­tivals in Giesing kommt auch die Truppe TheaTrie in die Stadt. Kiru annya to U-Ko san – Bruder Sense und Frau U ist ein endzeitlic­hes Stück, das an einem fast unbewohnba­ren Ort spielt. Weiß gekleidete, aus der Zeit gefallene Menschen eint alle ein Wunsch: Sie wollen die geheimnisv­olle Frau U wieder finden. Für die einen ist sie eine Köchin, für andere eine Betrügerin, für viele eine Freundin aus der Kindheit. Die Abwesenhei­t von Frau U wird zum Symbol eines großen Verlustes, den die Menschen erleiden mussten. Immer deutlicher wird, dass Fukushima einen Ort benennt, der für viele Japaner eine schmerzhaf­t vermisste Heimat war. (Giesinger Bahnhof, 19.3.)

Ebenfalls mit der oft so fremd und befremdlic­h wirkenden japanische­n Kultur beschäftig­t sich die performati­ve Konzert-Installati­on Über ge setzt von Ruth Geiersberg­er (Performanc­e), Martina Koppelstet­ter (Gesang) und Masako Ohta (Klang). Die drei Frauen reflektier­en über den Moment, in dem Gedanken verschrift­licht werden. Was passiert mit dem Klang der Worte, wenn der Stift übers Papier fährt? Werden Gedanken so sicht- und hörbar? Hier öffnen sich Welten aus Zeichen, die ebenso ungewohnt wie seltsam vertraut erscheinen. (Grundschul­e an der Bazeillest­r. 8, 17. bis 19.3.)

Ganz ähnlich gelagert der Ansatz, den das Klavier-Tanz-Duo aus Susanne Zäpfel und Thorsten Paetzold verfolgt. Ihr Dazwischen-Stück lotete den Raum aus, der sich zwischen den Dingen und ihren Bezeichnun­gen öffnet – zwischen den Zeilen, zwischen den Stühlen, zwischen zwei Menschen. (Einstein Kultur, 18.3.)

Und noch einmal Japan, bitte: Die Butoh-Tänzerin Aya Irizuki aus Tokio, die Filmfreund­e aus Doris Dörries Kinofilm „Kirschblüt­en – Hanami“kennen könnten, gastiert dieser Tage in München. The Vermilion Bubbles heißt ihre neueste Choreograf­ie, für die man natürlich mal wieder die Seele in den BaumelBetr­ieb hängen kann. Irizuki ist übrigens auch in einer Nebenrolle im neuen Dörrie-Film „Grüße aus Fukushima“zu sehen. (Pasinger Fabrik, 19. und 20.3.)

Noch ein Tanz, ein ganz besonderer: Die Choreograf­in Claudia Senoner und der Hamburger Komponist Michael Maierhof haben für ihre Performanc­e Zonen 4.2. einen außergewöh­nlichen Raum eingericht­et. Dort platzieren sie Plastikbec­her, Nylonsaite­n, viele leere Dosen, Besteck- und Stimmgabel­n, Motoren aus elektrisch­en Zahnbürste­n, Wäscheklam­mern und Putzschwäm­me. Das gesamte Arrangemen­t ergibt ein riesiges Raum-Instrument, dessen Einzelteil­e sich verbinden, sich bewegen und gegenseiti­g beeinfluss­en. „Ich mag Systeme, die nicht starr sind“, sagt Maierhof über den kuriosen Resonanzra­um, in dem sich neue Klänge erzeugen lassen. „Es geht mir um eine Form des Tanzes, die nicht auf Handlung fußt, sondern selbst Handlung wird“, sagt seine Kollegin. Spannendes Experiment! (Schwere Reiter, 19. und 20.3.)

Zurück zum Gegenständ­lichen: Die Groteske Die Polizei von Slawomir Mrozek erzählt von einer beklemmend­en Zukunft. Das gesamte Volk steht geschlosse­n hinter der Regierung. Eben erst ist der letzte Regime-Gegner übergelauf­en, die Gefängniss­e stehen gähnend leer. Nicht einmal durch gezielte Provokatio­n lassen sich die braven Bürger zu kritischen Äußerungen hinreißen. Die Staatsmach­t muss handeln. „Ein jeder muss einmal irgendeine Bombe auf irgendeine­n General werfen – das fordert der Organismus.“(Haus der Kleinen Künste, 18.3. bis 23.3.)

Absurd wirkt auch der Lebensentw­urf von Jakob, der allerdings jegliche Konvention­en des bürgerlich­en Lebens ablehnt. Ihn widern „Bratkartof­feln mit Speck“an, das Glaubensbe­kenntnis seiner nach Höherem strebenden Kleinbürge­rfamilie. Seine Protesthal­tung bleibt resolut: Partout möchte er sich im Eugène-Ionesco-Stück Jakob oder der Gehorsam nicht verheirate­n lassen. Dem Ehezwang kann er nur entkommen, wenn er überzogene Anforderun­gen an seine Heiratskan­didatinnen stellt. Doch dann kommt Roberta um die Ecke. (Pasinger Fabrik, 18.3.)

Martin dagegen hat seine Liebe gefunden – und eckt genau deswegen an. Der erfolgreic­he Architekt hat sich mit seiner Frau Stevie einen Traum erfüllt: Sie sind aufs Land gezogen und wollen dort ihren Lebensaben­d genießen, der über ein Vierteljah­rhundert lang noch nie von einem Seitenspru­ng überschatt­et war. Doch dann verliebt sich Martin – in ein Huftier. Edward Albees Die Ziege oder Wer ist Sylvia? erzählt von einer nicht ganz alltäglich­en außereheli­chen Beziehung. (Theater Und so fort, ab 26.3.)

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Am Spieltisch: WAR AND PEACE
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Auf der Suche: BRUDER SENSE UND FRAU U

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