Her mit dem Stoff
Radikal bewusstseinserweiternde Bühnenerlebnisse
Es ist ein Satz, der sich aufdrängt dieser Tage: „Es ist höchste Zeit, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen“, sagt Regisseur Nuran David Calis und hat mal dafür mal wieder den Staub von Franz Werfels epochalem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh geblasen. Präsident Erdogan würde dem Haus eine Freude bereiten, wenn er sich darüber aufregen würde. Erzählt wird von der Verschanzung von 5.000 armenischen Vertriebenen in der Bergfestung auf dem Moses-Berg an der Mittelmeerküste. In Guerillaverteidigung gelingt es ihnen, ihre Stellung gegen die türkischen Armeen, die den Völkermord vollenden wollen, zu halten. Letztlich gelingt ihnen sogar die wundersame Rettung auf ein französisches Kriegsschiff. Heute hat die IS-Miliz den Schauplatz des Grauens wieder auf die Landkarte gesetzt. Über Ermordung und Vertreibung der Armenier darf in der Türkei weiterhin nicht gesprochen werden. Höchste Zeit also für dieses Stück. (Marstall, ab 13.5.)
Immer wieder ein Aufregerthema ist Richard Wagners Antisemitismus, der in den Meistersingern von Nürnberg deutliche Worte findet. Fast 150 Jahre nach der Uraufführung am Nationaltheater bringt Regisseur David Bösch mit Generalmusikdirektor Kirill Petrenko am Dirigentenpult das Stück zurück – in der mittlerweile zwölften Münchner Neuinszenierung der Oper. Bösch arbeitet die Frage heraus, welchen Stellenwert Kunst in einer Gesellschaft haben kann – und das im Zeichen des Verfalls. Die Meistersingergilde hat noch immer den Anspruch, Kunst repräsentativ zu verankern. Gleichzeitig spürt sie aber schon, dass Anerkennung für sie keine Selbstverständlichkeit mehr ist, weil sie ihre zentrale gesellschaftliche Bedeutung längst eingebüßt hat. Bösch und Petrenko fahren erstklassiges Personal auf, um diesen Zwiespalt auszuloten: Wolfgang Koch, 2014 zum Bayerischen Kammersänger ernannt, übernimmt die Hans-Sachs-Partie. Stolzing, dem die Rolle des Erneuerers zukommen könnte, wird von Jonas Kaufmann gesungen. (Nationaltheater, ab 16.5.)
Und auch Christian Stückl fährt an seinem Haus Großes auf – Volkstheater im allerweitesten Sinn, weil es um Archaik und die Magie der Rituale geht. Le Sacre du Printemps von Igor Stranwinsky gilt zu Recht als eines der Schlüsselwerke der Moderne. Hier sieht man auch, wie verstörend es mit den Konventionen spielt: Der Vorhang öffnet sich, und die Schauspielerin stirbt. Doch ihr Tod ist nicht das Ende, sondern der Beginn der Aufführung, die ein Pas de deux zwischen Bestatter und Leiche ins Zentrum rückt. (Volkstheater, 13.5./14.5.)
Gleich eine ganze Festspiel-, Verzeihung: Festspielchen-Woche, hat Christiane Brammer an ihrem Hofspielhaus ausgerufen. Ein Schlüsselabend dabei ist die Darbietung der „Eine Pilgerfahrt zu Beethoven“-Novelle, mit der sich der 28-jährige Richard Wagner, der in Paris mit der Erfolgslosigkeit zu kämpfen hatte, perfide selbst aufwertet – als Erben des Klassikers. Mein Wagner macht daraus ein aberwitziges Entertainer-Solo, das sich an Übervätern abarbeitet. Wilgenbus haut virtuos in die Tasten. (Hofspielhaus, 15.5.)
Als Mini-Oper für Sopran und ein Jazztrio hat Astrid Hofmann eingerichtet und greift dafür tief in die MozartTrickkiste. Constanze ist allein zu Haus. Ihr Geliebter hat die famose Opernsängerin versetzt. In ihrer Not schmettert sie Arien und flehende leise Lieder, um ihn doch noch zu erweichen. Mozart ohne Kugel versteht sich als eine „Opera tartufa“. (Hofspielhaus, 19.5.)
Augenzwinkernd rundet sich das Pfingstspektakel mit dem SouvenirGastspiel des Theaters Baden-Baden. Erzählt wird hier die Geschichte der New Yorkerin Florence Foster Jenkins, die nur einen Traum hatte: Sie wollte als Sängerin ernst genommen werden. Ihre bescheidenen künstlerischen Mittel standen ihr dabei im Weg. Auf den Punkt brachte das Wirken der latent unbelehrbaren Diva (1868-1944), einer reichen US-Erbin, die Aufschrift auf ihrem Grabstein: „Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann, aber niemand kann behaupten, dass ich nicht gesungen hätte.“(Hofspielhaus, 21./22.5.)
Nicht einmal der Hauch eines Zweifels umflort das Talent von Schauspielerin Karina Schiwietz, die im Zentrum des OneWoman-Stücks Welche Droge passt zu mir? von Kai Hensel steht. Darin spielt sie eine unglückliche Hausfrau, Mutter eines Sohnes, die von großer innerer Unruhe umgetrieben wird. Die Ehe mit ihrem Gatten, einem Ingenieur, funktioniert reibungslos. Und trotzdem – oder gerade deswegen – will sie sich nicht einfach so auf seinen Wunsch nach einem zweiten Kind einlassen. Schon der weichliche Erstgeborene ist für Hanna oft kaum zu ertragen. Eigentlich will sie ihre Familie lieben, doch die innere Kluft wirkt schier unüberbrückbar. Oder gibt es doch einen Schlüssel, der die verschlossene Tür sperrt? Drogen können glücklich machen. Das wusste schon Seneca, Hannas philosophischer Hausheiliger: „Nur Kleinmütige und Schwächlinge wählen den sicheren Pfad“, sagte er. „Der Held geht über den Gipfel.“(Pasinger Fabrik, 25.5.)
Wenn man den Aufbruch nicht wagt, sitzt man eines Tages vielleicht doch mit Horst Hussels Damen auf der Friedhofsbank. Dort versammeln sie sich und reden über sich und die anderen – über Oberförster Farn, Pastor Barsch und Doktor Schlauch. Nur vom Fleck kommen sie nicht wirklich. Was bleibt sind höfliche, warmherzige, gemeine, komische, bitterböse, hinterrücks brutale Gespräche. So philosophieren sie sich auf ihrem Bänkchen durch den Tag. Getreu der Devise: Morgen geht’s los, ich bring die Axt mit. Für Bosheiten ist bei ihnen immer noch ein Plätzchen frei. (TamS, ab 25.5.)
Rabenschwarz auch das Szenario der Komödie Tante und ich. Hier begleiten wir einen jungen Mann, der seine todkranke Verwandte Grace besucht – um zu erben. Doch diesen Gefallen will sie ihm partout nicht tun. Aus Tagen werden Wochen, die Jahreszeiten kommen und gehen. Und das scheinbar so verwelkte Pflänzchen blüht eher noch auf. (Teamtheater Tankstelle, ab 26.5.)
An eine gesellschaftskritische Langzeitstudie mit Scharfblick hat sich Franz von Strolchen gewagt: Maidorf – Trilogie des Zusammenlebens Vol. 2 beobachtet einen rätselhaften, schwer reichen Fremden, der sich vor Ort eine schmucke Jugendstilvilla kauft und die Dorfgemeinschaft durcheinanderwirbelt. Menschen verschwinden, Glaubensgemeinschaften schießen aus dem Boden, und über den Eindringling wird mehr gesprochen, als das man selbst mit ihm Kontakt aufnimmt. (Schwere Reiter, ab 20.5.)
Bleibt zum Abschluss die Einsicht, dass William Shakespeare, dessen Todestag sich zum 400 Mal jährt, all das auch schon drauf hatte: Viel Lärm um nichts ist gleichzeitig einer seiner witzigsten und abgründig düstersten Komödien. Muss man unbedingt mal wieder nachprüfen. (Pepper, ab 18.5.)