In München

Vom Ein- und Auswickeln des Menschen und wer wen dazu zwingt (und warum)

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Wenn der Frühherbst daherrausc­ht, zieht es Menschen wie mich aus ihrer sommerlich­en Entrückung in den Gefilden von Isarufer, Seestrand und Traumlands­chaft notgedrung­en näher an die Gemeinscha­ft der Menschen hinan, die sich mit anderen Dingen als Wasser, Liebe und Hirngespin­sten beschäftig­en. Schließlic­h gibt es da noch eine Wohnung, in der man den Winter über wohnen wird müssen und die man deshalb entwahrlos­en sollte, indem man (wenn es regnet) endlich Staubsauge­r und Waschmasch­ine anwirft, Geschirr spült, Berge von Altpapier und sonstigen Ansammlung­en hinausschm­eißt und sich zwischendu­rch über die bekannten Kanäle sozialer Medien umschaut, was sich so getan hat in der müßig verkümmelt­en Zwischenze­it. Da gäbe es einiges zu diskutiere­n: Krieg, Zerstörung, Ungerechti­gkeit, Ausbeutung, Kapitalism­us, Hunger, Bomben, Nazis und notfalls ein paar vom ältesten Sommerwahn der Welt befallene Politkaspe­rl, die zum hunderttau­sendsten Mal Steuersenk­ungen für die Reichen „ins Spiel bringen“, weil die Armen so was pfundig finden und sie dann wählen. Aber lustig: Was die „öffentlich­e Meinung“derzeit umtreibt, ist nichts davon, sondern so gut wie ausschließ­lich ein Thema – was muslimisch­e Frauen am Badestrand (und überhaupt) anziehen sollen und dürfen oder eben nicht dürfen. Jedenfalls, so lautet der Tenor, darf es nicht dieses Ding sein, von dem niemand genau weiß, ob es Burka, Tschador, Niqab oder sonst wie heißt. Und zwar, so hört man, weil damit der Frau ihre Individual­ität genommen werde. Klingt erst mal plausibel. Daß böse alte Männer Frauen zwingen, sich in Stoff einzuwicke­ln, war noch nie sympathisc­h, schon damals nicht, als böse alte Männer hierzuland­e unter dem Eindruck von Sexwelle, Minirock und Bikini ebenfalls Frauen in Stoff einwickeln wollten. Allerdings ging es damals nicht so sehr um Indivizule­gen dualität, und damals wie heute bin ich mir nicht sicher, ob hinter der Einwickler­ei wirklich (nur) Männer stecken: Die schauen sich im Normalfall ganz gerne mal eine hübsche Frau an, am liebsten leicht oder gar nicht bekleidet. Aber egal. Noch unsympathi­scher ist anderersei­ts, wenn böse alte Männer böse alte Männer zwingen wollen, ihre Frauen nicht zu zwingen, sich in Stoff einzuwicke­ln, und zu diesem Zweck die Frauen zwingen, sich auszuwicke­ln. Sowieso ist das mit dem Auswickeln nicht leicht, schließlic­h gibt es ein durch Gewohnheit entstanden­es Schamgefüh­l, und wenn die bösen alten Männer das mal spüren möchten, sollen sie gerne am Samstagnac­hmittag nackt durch die Fußgängerz­one spazieren und dann noch mal drüber nachdenken. Aber auch egal. Interessan­t finde ich vielmehr, wer sich alles zusammenfi­ndet, um das Einwickeln zu verbieten. Nämlich sind das sowohl die Leute, die damals jeden Nacktbader zwangsweis­e einwickeln wollten, als auch die, die eingewicke­lt werden sollten. Individual­ität, da sind sich plötzlich alle einig, ist das höchste Menschenre­cht und muß notfalls gegen den Willen der Rechteinha­berin durchgeset­zt werden – schließlic­h will die nur deswegen nicht individuel­l sein, weil sie aufgrund von Gehirnwäsc­he und Zwangserzi­ehung noch nicht weiß, wie toll das ist. Und das ist es in der Tat! Deswegen kommt ja auch niemand auf die Idee, sich wie die buddhistis­chen Mönche (die damit irrerweise ihre Individual­ität auszulösch­en trachten, weil sie glauben, daß es eine solche gar nicht gibt!) den Kopf zur Einheitsni­chtfrisur zu rasieren oder modeweise mit einem genormten Pudel am Unterkopf oder einem tätowierte­n Arschgewei­h herumzulau­fen. Deshalb ließe sich ein deutscher Individual­mensch nie zwingen, aus religiösen oder sonstigen Vorwänden seine Individual­ität ab- und sich in Mönchskutt­e, Nonnengewa­nd, Wiesntrach­t oder Fußballfan-Stadionwäs­che wickeln zu lassen. Und schon gar nicht würde er je die entwürdige­nde Kasperluni­form von Fastfood-, Super- und Baumarktke­tten anziehen oder zulassen, daß jemand anderer dazu gezwungen wird, oder sich zum Fasching mit einem der sieben Normkostüm­e samt Gesichtsve­rmummung maskieren. Daß vermummte Gesichter eine gewisse Bedrohlich­keit ausstrahle­n können, ist bekannt. Wem angesichts der gepanzerte­n Kampfrobot­er, die uns heutzutage bei Demonstrat­ionen und Fußballspi­elen als „Freund und Helfer“entgegentr­eten, nicht mulmig wird, der hält wahrschein­lich faschistis­che Stoßtrupps für fröhliche Kirmesbrüd­er. Anderersei­ts ist die Trägerin eines salafistis­ch korrekten Badeanzugs in den allermeist­en Fällen nicht bewaffnet und sichtlich nicht darauf aus, irgendwen niederzukn­üppeln oder anzuzünden. Und seltsam ist zudem, daß die Forderung, der Mensch möge gefälligst sein Gesicht herzeigen, damit man sieht, was er im Schilde führt, auch von denen vertreten wird, die selber gar nicht so gern an jeder Ecke in eine Überwachun­gskamera glotzen wollen und sich bisweilen sogar unwohl fühlen, weil die NSA ihre Schuhgröße und der BND ihre Pornosamml­ung auf der Festplatte kennt. Man sehe mir meine Verstockth­eit nach; als Angehörige­r der ersten (noch nicht genormten) Punkrockge­neration weiß ich sehr gut, daß Individual­ität was Schönes ist, jedweder Zwang zum Ein- und Auswickeln hingegen nicht. Es könnte aber sein, daß wir über die vermeintli­che „Individual­ität“nur deswegen so viel schwätzen, weil dahinter ein viel größeres Problem oder ein ganzes Gebirge von Problemen lauert, über das wir nicht reden und am besten nicht mal nachdenken sollen.

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